Als „piercing" Durchstechen hieß

Maria Aschemann, Gerolstein

Bis zum ersten Weltkrieg zog der Lumpenhändler noch mit seinem Karren durch die Eifeldörfer, von Kindern sehnlichst erwartet, denn er brachte ihnen äußerst begehrte Tauschobjekte mit. Nur gegen ein recht dickes Bündel Lumpen, versteht sich. So waren es gerade die Kleinen, die daheim die Mütter bestürmten, noch einmal genauer nachzusehen, was alles am Lumpenkarren abgegeben werden könnte. Diesmal aber verbreitete es sich von einem Ende des Dörfchens DohmLammersdorf bis zum anderen wie ein Lauffeuer: „Heute hat er Ohrringelchen!" Eine Rarität in jener Zeit, als meine Großmutter Katharina, 1878 geboren, noch ein Kind war. Noch nie war der Lumpenkarren so voll geworden, wie an jenem Tag. Wie viele andere kleine Mädchen barg sie damals überglücklich ihr erstes kostbaren Ohrringpärchen in ihren Händen und trug es heim. Nun waren Ohrringe da, aber wie kamen sie in die Ohrläppchen? Den nächsten Juwelier gab es in Gerolstein. Er nahm diesen Dienst an seinen Kundinnen gratis vor, allerdings nur, wenn sie teuren Schmuck bei ihm gekauft hatten. Doch Ware vom Lumpenhändler? Nicht dran zu denken! Katharina war nicht umsonst Tochter einer Hebamme. Die weihte sie in das Geheimnis des Ohrduchstechens ein und passte ihr die Ohrringe auf diese Art an. Als Katharina damit

im Dorf von Schulkameradinnen gesehen wurde, sagte sie. „Bringt morgen eure mit in die Schule!" Und das taten sie auch.

Während der Pause, nachdem der Sitz Katharinas Ohrringe erst von allen Seiten begutachtet worden war, wickelte sie, umringt von einem halben Dutzend neugieriger Mädchen, aus einem reinen Taschentuch die geschälte halbierte Kartoffel nebst einer mitteldicken Stopfnadel. Bald saß das mutigste Kind auf der niedrigen Schulmauer vor ihr und hielt sich mit der rechten Hand den linken Zopf nach hinten zurück. Unter ihr Ohrläppchen schob Katharina flugs die Kartoffelhälfte, und mit sicherem schnellem Stich ging die Nadel an der genau richtigen Stelle durch. Die Augen kurz zusammengepresst, ein kleines „Au", dann ließ sich das Kind von der geschickt vorgehenden Gleichaltrigen auch das zweite Ohr mit dem Schmuckstück versehen. Ein bisschen Getupfe mit dem Taschentuch und ein: „So schlimm war's gar nicht!" machte den anderen Mut, sich der gleichen Prozedur zu unterziehen. Mit dem Resultat, dass der Lehrer nach der Pause erstaunt die Mädchenreihe betrachtete, die mit geschwollenen roten Ohrläppchen vor ihm saß, an denen aber funkelnagelneue Glitzerringelchen baumelten. Nun, wir wissen es ja längst: Wer schön sein will, muss leiden.