Das Wasser kommt

Alois Krämer, Bodenbach

Der kleine Johann in seiner Zinkwanne begann zu murren, als seine Mutter, die Marie,ihm die Ohren schrubbte und das Wunderwerk vollbrachte, einen über und über mit Dreck und Lehm verschmierten Jungen in ein sauberes Kind zu verwandeln, das am anderen Morgen im Hochamt die Messe dienen sollte. „Musst du dich immer so dreckig machen?", schimpfte sie und seifte ihm tüchtig das linke Bein und den Fuß ein. „Mama", beschwerte ihr Sohn sich, während er ihr das andere Bein hinstreckte, „Mama, wir haben den Arbeitern geholfen, die Gräben für die Wasserleitung auszuheben, da macht man sich nun mal schmutzig. Bald sind wir fertig, und dann kommt das Wasser bis ins Haus, ist das nicht toll? Und du brauchst kein Wasser mehr zu schleppen!", schloss er triumphierend. Damit hatte er gewonnen, das wusste der Bengel ganz genau. Alle Leute freuten sich über die neue Leitung, die nun endlich das Dorf mit fließendem Wasser versorgen würde. Ganz richtig, Marie verzog ihr Gesicht zu einem Lächeln. Nun würde ein Teil ihrer täglichen Arbeit sehr viel leichter werden. „Bald kannst du deinem Vater helfen, den Graben über den Hof zum Haus müssen wir selbst ausheben", meinte sie, „da habt ihr schon genug zu tun, ohne dass du den Arbeitern im Weg herumstehst!" Johann war beleidigt. Er hatte den Arbeitern fleißig Handlangerdienste geleistet, zudem noch aus dem Sauerbrunnen, den die Dorfbewohner „Drees" nannten, kannenweise das kohlensäurehaltige Wasser gegen den Durst herangetragen, und war dafür von allen gelobt worden. Das war wohl echte Schinderei und kein Herumstehen gewesen! Nachdem sie ihrem Sohn beim Abtrocknen geholfen und ihm seine Kleider gereicht hatte, leerte sie die Wanne aus, indem sie das Waschwasser in Eimer füllte und sie beiseite stellte.

Schließlich konnte sie damit noch die Küche, die Futterkammer und den Hausflur säubern. Wassersparen am rechten Ort war eiserne Pflicht, denn jeder Tropfen musste mühsam herangeschafft werden. Am Abend, als der Junge schlief, badeten sie und ihr Mann im gleichen Zuber, damit war die wöchentliche gründliche Körperreinigung der Familie beendet.

Zwar hätte man auch im Borler „Institut" duschen können. In den Nebenräumen des dortigen, von der Landwirtschaftskammer Rheinland-Nassau betriebenen Grünlandforschungsinstituts befanden sich Waschräume, wo man für einen Preis von 30 Pf. eine warme Dusche nehmen konnte. Doch erstens musste man den Weg dorthin erst einmal zurücklegen, und zweitens war ihr das Geld dafür eigentlich zu schade.

Später sprachen sie noch ein wenig über die Wasserleitung, die in jenen Tagen das Gesprächsthema Nummer eins im Dorf war. Im Jahr 1952 war endlich ein Tiefbrunnen mit Hochbehälter in Bodenbach geplant worden, Der Hochbehälter sollte seinen Platz auf dem sog. „Büchel", einem 504 m über NN hohen Hügel in der Nähe des Dorfes haben. Die Arbeiten waren schon weit fortgeschritten, alles freute sich, endlich den Wasserhahn im Haus aufdrehen zu können. „Denk dir", meinte sie, „ich brauche dann die Wassereimer nicht mehr in den Stall zu tragen, die Tiere haben dann ihren eigenen ,Kump'. In der Küche habe ich fließendes Wasser und in der Futterküche auch, du lieber Gott, was werde ich es gut haben", schloss sie strahlend. Aber noch war es ja nicht so weit.

Im Bett konnte sie lange nicht einschlafen. Vieles ging ihr durch den Kopf. Sie war nicht mehr ganz jung, den Sohn hatte das Ehepaar spät bekommen, als beide schon fast die Hoffnung aufgegeben hatten, Eltern zu werden. In der Zwischenzeit waren ihre und seine Eltern verstorben, eine ältere Tante, die im Haus gelebt und mitgearbeitet hatte, hatte sich noch verheiraten wollen und einen freundlichen Witwer gefunden, der sie in sein Heimatdorf mitnahm. Seitdem war die ganze Arbeit an ihr allein hängen geblieben, aber schließlich sollte es bald ein wenig besser werden. Ihr fiel der letzte strenge Winter ein. Wenn sie daran zurückdachte, liefen ihr im Nachhinein noch Frostschauer über den Rücken. Im Dorf gab es drei Pumpenstöcke, die im Sprachgebrauch „Kump" genannt wurden. In große, rechteckige Behälter aus Metall wurde das Wasser mittels Schwengelpumpen geleitet. Von dort wurde das Trinkwasser für den täglichen Bedarf geholt und das Vieh getränkt. In Stoßzeiten waren Wartezeiten an der Tagesordnung. Ihr fiel ein, wie sie im tiefen Schnee am „Kump", der sich ein Stück unterhalb des Gehöfts an der Straße befand, das Wasser mittels des Schwengels in Zinkeimer gefüllt und von dort auf einem Schlitten die steile Straße heraufgebracht hatte bis zum Stall. Weil die Tiere das eiskalte Wasser nicht trinken durften, musste sie es zuerst mit etwas heißem Wasser vermischen und dann erst in den Stall zu den Tieren bringen. War kein Frost, konnte sie die Tiere aus dem Stall hinunter zur Tränke führen. Wenn sie bloß an den Streit mit einer anderen Bäuerin dachte, der dadurch entstanden war, dass beide Frauen glaubten, die erste an der Tränke gewesen zu sein? Schrecklich war das gewesen und noch Wochen danach hatte man nicht miteinander gesprochen. Und nur, weil sie beide wohl ziemlich genervt waren durch die unruhigen Tiere, die begierig auf das Wasser warteten. Irgendwann war es dann auch wieder in Ordnung gekommen, denn um wie vieles schöner war es doch, am „Kump" ein nettes Schwätzchen mit den Nachbarsfrauen halten zu können. Was gab es sonst außer der täglichen Arbeit für sie im Dorf? Am nächsten Tag war Sonntag. Sie stand am Herd und bereitete die Mahlzeit zu. Das Wasser zum Kochen nahm sie aus einer Milchkanne, die sie dafür zweckentfremdet hatte und stets sorgfältig verschloss, damit kein Schmutz hineingeriet.

In der Werkstatt neben der Scheune befand sich zwar der Hausbrunnen mit gutem Trinkwasser, doch das konnte im Sommer schon einmal knapp werden, wenn es lange nicht geregnet hatte. Fast jedes Haus besaß solch einen Brunnen, bei manchen befand er sich im Keller, bei manchen im Erdgeschoss oder auch im Vorgarten.

Als sie so nachsann, fiel ihr ein, dass es früher schon einmal eine zentrale Wasserleitung gegeben hatte. Im Jahr 1888, so hatte ihr Vater erzählt, war der Bau einer solchen Leitung beschlossen und Jahre später auch gebaut worden. Sie führte ins Schulhaus und ins Pfarrhaus, Nutznießer war also der Lehrer, der seine Wohnung im ersten Stockwerk des Schulgebäudes hatte, und der Pfarrer in seinem Haus neben der Kirche. Außerdem wurde der Pumpenstock auf der „Kaul" durch diese Leitung gespeist. Später aber hatten sich die Rohre zugesetzt und kein Wasser mehr durchgelassen. Danach hatten die Schüler dann die ehrenvolle Aufgabe gehabt, fortan die Lehrerwohnung mit Wasser zu versorgen. Eigens hierfür hatte der Lehrer teure Aluminiumeimer angeschafft, da dieses Metall hierfür besser geeignet war als das sonst übliche Zink. Brav trugen die Kinder täglich die Eimer zur Lehrerwohnung hinauf und niemals wäre jemand auf die Idee gekommen, dass die Leute dies auch hätten gut selbst erledigen können. Aber so war es nun einmal: Pfarrer, Lehrer und allenfalls noch der Ortsvorsteher hatten eben besondere Rechte.

Am Sonntagabend musste Marie die große Wäsche vorbereiten. Zunächst weichte sie diese mit etwas Soda in einer Zinkwanne in kaltem Wasser ein. Die harte Arbeit würde erst morgen beginnen. Am anderen Morgen füllte sie nach der Stallarbeit eimerweise Wasser in den beheizbaren Kupferkessel, der in dem Vorraum zur Küche, der so genannten Futterküche, seinen Platz hatte. Dieser hatte zwei Einsätze, einen für die Zubereitung von Viehfutter und einen für die Wäsche. Hier hinein füllte sie nun die ausgewrungene Wäsche und brachte sie zum Kochen. Danach wurden die Wäschestücke mit einer Holzzange in den Waschzuber gefüllt, die Lauge wurde natürlich wieder verwendet, und mit einem Stampfer in der Wanne tüchtig gewalkt. Noch fleckige Stellen wurden auf dem Waschbrett tüchtig „gerubbelt". Im Sommer kam die weiße Wäsche dann auf die Bleiche und wurde dort mit Wasser berieselt. Das Spülen der Wäsche fand im Sommer am „Kolle Pötz" statt. Das war ein Brunnenhaus am Dorfausgang nach Bongard, der von den Hausfrauen des Ortes gern zu diesem Zweck frequentiert wurde. Dorthin fuhr sie dann Waschzuber und Eimer mit einem Handwagen, schöpfte das Wasser aus dem Brunnen, was nicht ganz einfach war, denn man musste sich schon sehr vorbeugen bis zum Wasserspiegel, und spülte fleißig die Wäsche, bis sie klar war. Sogar im Sommer war dies eine schwere Arbeit, doch im Winter war das Wäschewaschen noch sehr viel mühseliger und die Hände der Hausfrau blau und rot vor Kälte und wund von all dem Rubbeln und Scheuern. „Johann", rief Marie nach ihrem Sohn, „ich muss runter zum Kolle Pötz, Wäsche spülen, mach keine Dummheiten und bleib im Haus. Wenn die Paula kommt, gib ihr die Eier, die auf dem Küchenschrank stehen!" Marie verkaufte neben Honig aus ihren eigenen Bienenstöcken auch die Eier ihres Hühnervolks. Der Knabe war gerade damit beschäftigt, mit dem Schnitzmesser seines Vaters ein kleines Boot zu schnitzen. Zu diesem Zweck hatte er sich in der Werkstatt versteckt, wo sich auch der Hausbrunnen befand. Wenn sein Vater ihn mit seinem Schnitzmesser erwischte, dann wäre eine Ohrfeige wohl die geringste Strafe, dessen war er sich sicher. „Ja, ja", rief er und kroch noch tiefer unter die Werkbank. So, nun war sein Werk fertig! Stolz betrachtete er das kleine primitive Boot, das stark an einen Einbaum erinnerte. Wo könnte er das Boot nun schwimmen lassen? Nach draußen durfte er nicht, weil die Paula kommen sollte. Sonst hätte er sein Boot gut an der so genannten „Perdstränk", einer Stelle unter der Brücke, die den Dorfbach querte, zu Wasser lassen können.

Sein Vater hatte ihm erzählt, dass dort früher die Postkutsche gehalten hatte, um die Pferde saufen zu lassen. Was war da zu tun? Sein Blick schweifte nachdenklich durch den Raum, blieb dann am Hausbrunnen hängen. Wenn er Wasser aus dem Brunnen holte, es in einen Topf füllen und das Boot fahren lassen könnte? Draußen stand der „Pottäsch"-Kessel, ein altes Gefäß, in dem einer der Vorfahren Pottasche hergestellt hatte, und das heute als Trinkwasserbehälter für die Tiere diente. Es war fast leer - welch prächtiges Fahrwasser gäbe es wohl ab für sein Boot, wenn er es mit dem Wasser aus dem Hausbrunnen füllen würde? Außerdem wären seine Eltern froh, wenn er ihnen diese Arbeit schon abgenommen hätte.

Zunächst wollte er aber noch ein Segel an dem Boot befestigen. Er verbrachte einige Zeit damit, einen kleinen Mast zu schnitzen und im Flickkorb der Mutter nach einem Fetzen Stoff zu suchen, um sein Boot fertig zu bauen. Schließlich war es ihm schlecht und recht

gelungen, und stolz betrachtete er sein Werk. Nun wollte er aber seinen „See" füllen. Der Hausbrunnen war mit einem Holzdeckel verschlossen. Mit großer Anstrengung schob er den Deckel beiseite und schaute in die Tiefe. Der Brunnen war wohl über sechs Meter tief und der Wasserspiegel schimmerte von ganz unten silbrig glänzend. Ein wenig schauderte es ihn vor der Schwärze da unten und ein wenig kribbelte es im Bauch vor Aufregung. Wo war nur der Eimer? Suchend blickte der Junge sich um. Er war fort und der Strick, wo er daran befestigt war, ebenso. Das verstand er nun überhaupt nicht. Ob die Mutter den Eimer mitgenommen hatte, um aus dem Kolle Pötz Wasser zu schöpfen? Also musste er sich ein neues Gefäß suchen. Er ging in die Küche, von dort aus in die Futterküche, und von dort aus in den Stall. In der Ecke lagen einige Kälberstricke. Er betrachtete sie, dann kam ihm eine Idee. Er nahm einige Stricke, ging zurück in die Futterküche und nahm einen Melkeimer mit. Die Kälberstricke knotete er aneinander und schlang das eine Ende um den Eimer, machte einen Knoten und ließ den Eimer dann langsam in den Brunnen hinab. Plötzlich hörte er hinter sich ein Geräusch. Erschreckt wandte er sich um und ließ den Strick los. Während er die Katze von der Werkbank springen sah, fiel der Eimer polternd in den Brunnen hinab. Entsetzt starrte Johann ihm hinterher, dann sprang er zur Türe hinaus und rannte fort. „Ist keiner zu Hause?" Die Paula, welche die Eier holen wollte, trat durch die Haustür in die Stube. Es war nicht üblich, die Haustüren abzuschließen, die Nachbarin konnte so ungehindert eintreten. „Die Marie habe ich doch mit der Wäsche fahren sehen, aber wo ist der Johann denn?", murmelte sie und rief nach ihm: „Johann, ich komm die Eier holen!"

Keine Antwort. Da hörte sie ein Geräusch, ging ihm nach betrat die Werkstatt, wo ihr die Katze entgegenkam. Sie erblickte den halb offenen Hausbrunnen, den Kälberstrick und erschrak tief. Sich vorbeugend, schaute sie in den Brunnen hinab, sah den Melkeimer und schrie auf: „Der Johann liegt im Brunnen, Hilfe, der Johann Sie rannte zur Werkstatttür hinaus in den Hof und schrie immer weiter. Keuchend kam ihr Marie entgegen, die den Handwagen mit der ausgespülten Wäsche hinter sich herzog. „Was schreist du so, Paula, was ist los!" Seufzend ließ sie die Deichsel los und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Der Johann, der Johann ..", keuchte Paula und wies zur Werkstatt hin. Marie erschrak und rannte in die Werkstatt hinein, sah den halb offenen Brunnen, schaute hinunter und schrie fassungslos auf, eilte wieder in den Hof hinaus, rief jammernd nach Johann, nach Werner, ihrem Mann, nach Gottes Hilfe, und rang vor Entsetzen die Hände. Der Lärm hatte andere Dorfbewohner herbeigelockt, welche die Frauen mit Fragen bedrängten. Marie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und war in haltloses Weinen ausgebrochen. Johann war durch das Lärmen und Schreien aus seinem Versteck in der Scheune aufgeschreckt und beobachtete dies alles durch einen Spalt in der Scheunenwand. Ihm schlug das Gewissen, als er seine arme Mutter heiße Tränen vergießen sah. „Mama", er schlich leise hinter sie, „Mama, ich bin doch hier", seine Augen schwammen in Tränen, „es tut mir leid." Wie ein Blitz fuhr sie herum, erblickte ihren Sohn, dem nun die Tränen die Wangen herunterliefen, und im gleichen Augenblick hatte sie ihm eine Ohrfeige versetzt. Doch im nächsten Moment schloss sie ihn in ihre Arme, und beide heulten wie die Schlosshunde.

In den nächsten Tagen begann der Vater, dem man vorsorglich nichts von dem schrecklichen Ereignis erzählt hatte, mit dem Ausheben des Leitungsgrabens bis zum Haus, wobei ihm Johann, das muss einfach einmal gesagt werden, tüchtig half. Endlich dann war das große Werk vollendet, und jeder Haushalt in Bodenbach war an das Leitungsnetz angeschlossen. „Schmeckt ein bisschen wie Drees", stellt Johann fest, als er das erste Mal das Leitungswasser probierte. Es hatte tatsächlich einen sehr hohen Kohlensäuregehalt, zudem einen hohen Härtegrad, so dass später nach einem neuen Wasservorkommnis gesucht werden musste. Einige Jahre später wurde mit dem Bau einer Kanalisation begonnen, da die Abwässer teilweise in die Straßenentwässerung flossen. Das konnte natürlich kein Dauerzustand bleiben, zumal die Familien - nun verwöhnt durch das nach Belieben fließende Wasser - sich nach und nach Badezimmer und Toiletten mit Wasserspülung anschafften, natürlich auch Werner, Johann und Marie.

Heute verbraucht im Durchschnitt jeder Bundesbürger 130 Liter täglich, davon das meiste zur Körperpflege. Wie einfach ist es doch, den Hahn aufzudrehen, zu baden und zu duschen, wann immer man den Wunsch dazu verspürt, wie leicht der Einschaltknopf zu bedienen für die vielen elektronischen Helfer im Haushalt wie Waschmaschine, Spülmaschine usw.? Wie verführerisch ist es, den Rasensprenger einzuschalten, den Swimmingpool zu füllen? Doch Wasser ist eines der kostbarsten Elemente unseres Planeten. Heute werden wir uns mehr und mehr bewusst, wie wertvoll und teuer es ist, und wie wichtig, wieder sorgsamer damit umzugehen.