Wie das Widderchen zu seiner Farbe kam

Doris Ring, Daun

Vor vielen hundert Jahren gab es eine Schmetterlingsfamilie, deren Farben prächtiger leuchteten als die aller anderen Falter auf der Welt. Ja, es war sogar so, dass alle sagten, jeder dieser Schmetterlinge trage alle Farben dieser Welt in seinem Gewand. Weil ihre Fühler länger waren als die vieler anderer Schmetterlinge wurden sie von allen die Familie der Widderchen genannt. Die Widderchen waren eine friedliche Sippschaft, am liebsten tanzten sie im Sonnenschein und besuchten alle Blüten und Blumen, die sie finden konnten. Eines Tages verdunkelte sich die Sonne am helllichten Tage, es wurde kalt und eine unsichtbare Bedrohung lag in der Luft. Die Widderchen sammelten sich am Wegesrand und schauten sich ängstlich um. Plötzlich erhob sich ein lautes Gebrause und Getöse so dass man meinen konnte, die Welt ginge unter.

Am Horizont erschien eine in schwarze wallende Kleider gehüllte Frau, die auf einem Wagen saß, der von sechs kohlrabenschwarzen Wildhunden gezogen wurde. Bevor die Falter etwas tun konnten war die Furcht erregende Gestalt auch schon bei ihnen. Ihre schrille Stimme traf die empfindlichen Ohren der Schmetterlinge wie Donnerschläge. „Ich bin gekommen, um mir das zu nehmen, wovon ich schon lange geträumt habe. FARBE! Ich will eure Farbe haben!! Endlich bin ich am Ziel! Die Sonnenfinsternis steigert meine Zauberkraft um ein Vielfaches. Jetzt kann mich nichts mehr aufhalten!" Die Widderchen drückten sich ganz nah beieinander, sie zitterten vor Angst. Die grässliche Zauberin hob ihren Zauberstab und richtete ihn auf die Schmetterlinge. Sie murmelte unverständliche Worte, gleichzeitig schossen aus dem Stab schwarze Blitze und trafen die Falter.

Sobald ein Blitz ein Widderchen berührte, wurde dieses von einer tiefschwarzen Wolke eingehüllt. Innerhalb kürzester Zeit war kein Falter mehr zu sehen, überall nur schwarze stinkende Wolken.

Triumphierend lachend schaute die Zauberin an sich hinunter.

Ihre Kleider leuchteten in allen Farben dieser Welt.

Selbst die Haare, vorher pechschwarz, schienen ebenfalls in allen Farben zu schillern. Zufrieden bemerkte die Hexe, wie ihre vormals schwarzen Hunde mit jeder Bewegung ihre Farbe verändern konnte. Ohne einen weiteren Blick auf die Widderchen trieb die Zauberin ihre Tiere mit lauter Stimme zum Umkehren an und in Windeseile war sie am Horizont verschwunden. Als sich die Sonnenfinsternis aufzulösen begann, vertrieben die warmen Strahlen der Sonne die schwarzen Wolken um die Schmetterlinge herum. Doch was war geschehen? Kein Widderchen zeigte eine andere Farbe als schwarz. Nirgendwo war auch nur der kleinste Hauch einer anderen Farbe zu sehen. Traurig und still lebten die Widderchen von da an ihr Leben als schwarze Falter, die von vielen Menschen nicht gerne gesehen wurden. Einen Teil der Schmetterlinge verschlug es in die Eifel.

Sie fanden am Weinfelder Maar einen ruhigen Platz, an dem sie nicht sofort wegen ihrer tiefschwarzen Farbe verjagt wurden. Eines Tages meinte ein junges Widderchen, das die Geschichte seiner Familie von seiner Großmutter erzählt bekommen hatte, es wäre eine große Ungerechtigkeit, dass sie wegen dieser Hexe so ein abgeschiedenes Dasein fristen müssten.

Die Menschen fotografierten sie nicht, weil sie nicht leuchteten, die Kinder malten keine Bil-

der von ihnen wie vom Tagpfauenauge. Wütend stampfte der Falter auf und flog zu seiner Freundin, einem Marienkäferweibchen, dass sich gerade auf einem Vulkanstein sonnte.

Empört berichtete der Schmetterling, was seine Großmutter erzählt hatte.

Der Marienkäfer umarmte den Falter und sprach:

„Glaube mir, wenn ich wüsste, wie ich dir helfen könnte, würde ich es sofort tun." Das Widderchen schüttelte den Kopf: „Du hast ja selbst Probleme, weil es in deiner Familie immer mal wieder Marienkäfer gibt, die keinen einzigen Punkt haben. Und von dir und deinen Geschwistern hat's halt dich getroffen."

Traurig schaute das Marienkäferweibchen an sich herunter. Nicht ein einziger Punkt war zu sehen, so sehr es auch schaute. Da begann der Stein, auf dem die beiden saßen plötzlich fürchterlich zu wackeln. Erschrocken flogen beide auf und landeten in sicherem Abstand auf einer Bank, von der aus sie einen wunderschönen Blick auf das Totenmaar hatten. Doch waren beide gerade weit entfernt davon, diesen zu genießen. Der Stein wurde von unten angehoben und rollte zur Seite.

Dadurch wurde ein Loch sichtbar, aus dem sich eine grüne Mütze schob, die auf wildem schwarzen Haar saß.

Dann kam ein wie Leder gegerbtes, Schmutz verkrustetes Gesicht zum Vorschein. Große blaue Augen blitzten wütend in diesem Gesicht, das von einer riesigen knolligen grünen Nase beherrscht wurde. „Verflixt!" schimpfte das kleine Männchen, hüpfte aus dem Loch und lief auf die Bank zu, wo der Schmetterling und seine Freundin vor Schreck ganz starr saßen. Flink kletterte das kleine Ding die Bank hoch, stemmte die Arme in die Hüften und baute sich drohend vor den beiden Freunden auf. „Dieses Gejammer kann ja kein anständiger Troll aushalten!"

Mit zittriger Stimme fragte das Widderchen: „Troll?"

Der so angesprochene Troll äffte die Stimme des Falters nach:

„Troll? Natürlich TROLL, was sollte ich denn sonst bitteschön sein? Ich bin ein Grünnasen-Eifeltroll. Grünnase deshalb, weil es hier so viele grüne Pflanzen gibt und ich den ganzen Sommer über davon esse." Marienkäfer und Schmetterling entspannten sich ein wenig.

„Und was machst du in diesem Loch?" fragte der Marienkäfer neugierig. „LOCH? Du sagst LOCH zu meiner Wohnung?" Der Troll hüpfte wütend auf und ab und raufte sich dabei die Haare.

Dann holte er tief Luft und sprach laut und klar, damit diese beiden schrägen Flugtiere auch ja jedes Wort verstehen konnten. „Nicht nur, dass ihr auf meiner Haustür gesessen habt ohne mich zu fragen. Euer Geheule wegen Farben und Punkten und weiß der Wald-Elf was hat mich in meinem wohlverdienten Schlaf gestört! Dabei habe ich die ganze Nacht schwer gearbeitet. Könnt ihr euch nicht drüben in der Kapelle ausheulen? Muss das genau auf meiner Haustür passieren?" Zerknirscht schauten ihn die beiden an. Da bekam der Troll Mitleid mit ihnen und sagte sehr viel friedlicher: „Ich kann gar nicht verstehen, warum ihr so einen Aufstand macht! Euer Problem kann bei der nächsten Mondfinsternis gelöst werden. Eins meiner Spezialgebiete ist Hexereien im Schein des Mondes!"

Dann, als der Troll die fragenden Gesichter des Widderchens und seiner Begleiterin sah, brach er in ein meckerndes Lachen aus. „Ich erkläre euch, was ihr tun müsst!" So erfuhren die beiden Freunde, dass sie in der Nacht der Mondfinsternis gemeinsam zum Dronketurm fliegen sollten. „Setzt euch zusammen auf den Rand der Mauer. Lasst euch nicht einschüchtern von dem, was passiert. Ganz egal, was ihr hört oder seht. Das Wichtigste ist eure Freundschaft. Lasst euch nicht los, auch wenn euer Leben bedroht wird. Ich wecke euch am Tag der Mondfinsternis rechtzeitig. So, und jetzt verschwindet! Ich will endlich schlafen!" Mit diesen Worten sprang der Kobold auf, rollte den Stein nahe an das Loch, hüpfte hinein und zog anschließend den Stein über den Eingang.

Nichts deutete mehr darauf hin, dass dort ein Troll lebte.

Das Widderchen und der Marienkäfer schauten sich ratlos an, beschlossen dann jedoch, einfach abzuwarten, was passieren würde. Am Abend der Mondfinsternis erschien der Troll, weckte die beiden Freunde und ermahnte sie noch einmal, an ihrer Freundschaft festzuhalten, koste es, was es wolle. Schmetterling und Käfer landeten auf dem Rand des Turmes, setzen sich und hielten sich bei den Händen als die Mondfinsternis begann. Dann, als der Schatten der Erde den Mond ganz bestimmte, erhob sich ein Klagen und Kreischen, ein Geheule und Gefauche wie es nie zuvor in der Eifel zu hören war. Das Wasser des Maares blubberte und begann zu brodeln, gewaltige Wasserfontänen schossen in die Höhe und aus der Ferne war das sich schnell nähernde Gebell von Hunden zu hören. Dann stand auch schon der Wagen der Farbenhexe mit ihren Tieren vor den beiden Freunden, so wie ihn die Großmutter des Falters beschrieben hatte. Fauchend und keifend begann die Hexe das Marienkäferweibchen und seinen Freund zu beschimpfen und zu bedrohen. Sie versuchte einen Keil zwischen die beiden zu treiben, indem sie Lügen spann und Bilder entstehen ließ, die beide Tiere an ihrer Freundschaft zweifeln lassen musste. Aber egal, was die Zauberin auch aufbot - das Widderchen und seine Freundin hielten sich fest und ohne Zweifel an den Händen und bekräftigten, dass sie lieber sterben wollten als diesem bösen Wesen zu glauben. Dann, als die Mondfinsternis ihren Höhepunkt erreichte und der Kranz des Mondes in leuchtendem Rot am dunklen Himmel stand, fühlten sich die beiden Freunde in die Luft gehoben,

spürten das rote Licht des Mondes und begannen zu tanzen.

Immer wilder drehten sie sich am Nachthimmel, flogen jauchzend und lachend höher und höher.

Am nächsten Morgen, die Sonne stand schon hoch am Himmel, erwachte der Schmetterling. Verdutzt schaute er sich um, dann rüttelte er am Marienkäfer, der neben ihm im Gras lag. Dieser gähnte, rieb sich die Augen und meinte: „Ich hatte vielleicht einen aufregenden Traum. Puh, das war ganz schön wild!" Lachend sagte der Falter: „Traum? Das dachte ich auch, aber schau uns doch mal an!"

Das Marienkäferweibchen öffnete die Augen und ihr Blick ging ungläubig von einem zum anderen.

Da wo ihr Freund gestern noch ein tiefes Schwarz zeigte leuchteten jetzt auf seinen Flügeln Punkte in genau dem Rot, dass ihr eigenes war. Und sie?

Am Vortag war sie leuchtend rot ohne einen einzigen Punkt. Jetzt trug sie auf ihren Flügeln wunderschöne tiefschwarze Punkte. Die beiden fielen sich in die Arme und lachten und weinten gleichzeitig. Dabei mussten sie sich immer wieder anschauen, weil sie es nicht glauben konnten.

Plötzlich hörten sie ein leises Kichern.

Sie waren in der Nähe der Erdwohnung des kleinen Troll gelandet.

Als er sich ausgekichert hatte brummelte er, ihren Dank abwehrend: „So, jetzt verschwindet. Ich muss ein bisschen Schlaf nachholen!"

Seit dieser Nacht fliegen die Widderchen wieder fröhlich singend über die Sommerwiesen der Eifel.