Gerolsteiner Kyllgeschichte(n)

Karl-Heinz Böffgen, Gerolstein

„Am 31. Juli d. J. fiel die 12 Jahr alte Gertrud Martin zu Gerolstein in den damals sehr stark angeschwollenen Kyllfluß und würde unfehlbar ihren Tod in den Fluthen gefunden haben, wenn sich nicht Maria Gertrud Schlösser, Ehefrau des Zimmermanns Franz Meyer, welche auf das Geschrei einiger am Ufer befindlichen Kinder herbeigeeilt war, muthig von dem über 4 Fuß hohen Ufer in den Fluß gestürzt, das sinkende Kind ergriffen und ans Ufer gebracht hätte. Diese That der Ehefrau Meyer ist umso verdienstlicher, da sie schwach und kränklich ist. Indem wir diese menschenfreundliche Handlung zur Kenntniß des Publikums bringen, bemerken wir, daß wir der Ehefrau Meyer eine Geldprämie bewilligt haben.

Trier, den 22. September 1845."

Dieser Bericht wurde 1845 im Amtsblatt der Königlich Preuß. Regierung zu Trier veröffentlicht. Er gibt nur eine von vielen Geschichten wieder, die sich entlang der Kyll zutrugen. Das Wasser jenes Mittelgebirgsbaches verbindet alle diese Geschichten von seinen drei Quellen bei Losheimergraben an der deutsch-belgischen Grenze bis zur Mündung in die Mosel bei Trier-Ehrang. Weniger bekannt ist die Rolle der Kyll, die sie im Laufe der Geschichte spielte.

Für uns Gerolsteiner war die Kyll ein Stück Heimat, sie gehörte in vielfältigster Weise zu unserer Biografie. In dieser Stadt unterbricht sie ihren Lauf nach Süden und fließt gut drei Kilometer in westliche Richtung. So, als ob sie im Stadtgebiet Gerolsteins der einmaligen Felskulisse die angemessene Basis verleihen und dem landschaftlichen Höhepunkt auf ihrem 142 Kilometer langen Lauf die Ehre geben will. Der Name Kyll geht wahrscheinlich auf das keltische Wort Gilum (= Bach) zurück, das sich im Mittelalter zu „Kila" und schließlich zu Kyll entwickelt hat. Sicher ist: Der römische Dichter, Erzieher und Staatsmann Decimus Magnus Au-sonius, der sich von 367 bis 377 n. Chr. in Trier aufhielt, kannte die Kyll. Er nannte diesen Nebenfluss der Mosel in seinem berühmten Gedicht

„Mosella": die Gelbis. Er wusste sicherlich, dass auf diesem Flüsschen Produkte nach Trier transportiert wurden, einfach und relativ schnell. Es handelte sich vornehmlich um solche, die entlang oder in der Nähe der Kyll hergestellt bzw. gewonnen wurden, wie z. B. Steine u. a. Rohstoffe, Holz (auch mittels Treibgut-Flößerei), Ziegel (z. B. aus dem Brennofen in Mürlenbach) und landwirtschaftliche Erzeugnisse für die Versorgung Triers. Letztere hätten auch aus der Villa rustica „Auf dem Hofacker" in Gerolstein, (später genannt Villa Sarabodis) stammen können. Es ist längst nachgewiesen, dass die Kyll zur römischen Zeit (etwa 1. bis 5. Jahrhundert n. Chr.) eine wichtige Verkehrs- und Transportmöglichkeit aus der Eifel nach Trier war. „Bei den Grabdenkmälern und Grabsteinen ist in Kombination mit reich ausgestatteten oder großen Villen eine perlenschnurartige Aneinanderreihung entlang der Kyll festzustellen (...). Es ist davon auszugehen, dass dieser Fluss stark befahren war (...)" (Henrich 2006). Zur Römerzeit gab es hervorragende Landvermesser, Baumeister, Wasserbauer und Gewässerkundler. Diese waren in der Lage, die Kyll bei Bedarf zeitweilig und abschnittsweise aufzustauen und den Stau wieder zu öffnen. Dieses Verfahren, Holzstämme auf dem Wasserweg zu befördern, wurde noch bis in die Neuzeit, auch bei viel kleineren Bächen als die Kyll, in anderen Gegenden Deutschlands angewandt. Das Wasser der Kyll hat schon immer viele Aufgaben erledigt, bevor es sich mit dem der Mosel verbindet: einen Stausee gefüllt, unzähligen Tieren und Pflanzen Lebensraum verschafft, im Laufe der Jahrhunderte etwa 20 Mühlen mit Energie versorgt, Strom erzeugt, Anglern und Bootstouristen das Freizeitvergnügen gesichert, für Bewässerung und Entwässerung gesorgt, jahrelang unser Schmutzwasser abgeführt u. a. m. Die Kyll war ein bevorzugter, wenn auch nicht immer sicherer Abenteuerspielplatz. Einige von uns Kindern oder Jugendlichen waren in der Nachkriegszeit in der Lage, Forellen mit der Hand zu fangen. Andere erledigten dies, indem sie dazu

Karbid (Azetylen) in Form von „Flaschenbomben" einsetzten, was natürlich streng verboten war. Die Kyll war vor allem der beste Ort, die Natur kennen zu lernen.

In Erinnerung geblieben sind die einst häufiger auftretenden Hochwasser. Die Gerolsteiner Mineralwasserbetriebe setzten früher Holzkisten ein, die zwar einfach zu reparieren waren, sich ungesichert aber bei höheren Fluten auf den Weg kyllabwärts machten. Ihr Einsammeln und Abgeben beim richtigen Betrieb (Aufschrift) wurde mit einer kleinen finanziellen Anerkennung entlohnt. 1868 geriet die Kyll auch überregional in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. In diesem Jahr begannen die Bauarbeiten für die Eisenbahnstrecke Kall - Gerolstein - Trier. Nach jahrelangem Kampf hatte man beschlossen, die Fortsetzung der Bahnstrecke Saarbrücken - Trier bis Glaadt durch das Kylltal, dann über Schmidtheim zum Anschlusspunkt Kall zu führen. Allein auf dem Teilstück von Ehrang nach Gerolstein mussten acht größere Tunnel gebrochen und 25-mal die Kyll überquert werden. An vielen Stellen, wie auch in Gerolstein, wurde das Bett des Flusses verschoben; die Kyll büßte streckenweise ihren ursprünglich natürlichen Lauf ein. Die Eisenbahnlinie von Gerolstein nach Trier gilt als eine der schönsten in Westdeutschland. Seit einigen Jahren wird sie begleitet vom Kyll-Radweg. Die Eisenbahn- und Mineralwasserstadt Gerolstein hatte sich in den 1930er-Jahren längst einen Namen als Touristengemeinde gemacht. In einer Werbung jener Zeit heißt es: „Luftkurort Gerol-stein/Eifel, das Ziel vieler Eifelbesucher! Ärztlich empfohlen bei Kropf-, Nieren-, Darm- und Blasenleiden. In der Trinkhalle des Gerolsteiner Sprudel unentgeltliche Trinkkuren." Gerolstein Dank seines Wassers auf dem Weg zum Kurort? Neben anderen Versorgungs- und Infrastruktureinrichtungen standen laut Werbeschrift zur Verfügung: „Badeanstalten: Wannen- und Brau-

Altes Schwimmbad 1934, Foto Fredy Lange

sebäder in der Volksschule am Hindenburgplatz (Anm.: heute ehemalige St. Josef-Schule/Mehrgenerationenhaus), Schwimmbad: Gerolsteiner Badeanstalt an der Kyll, Fluß-, Sonnen-, Licht-, Luft- und Strandbad (!)." Dieses längst verschwundene Bad lag etwa 300 Meter unterhalb der alten Mühle am so genannten Mühlenwäldchen, in der Nähe der Bahnlinie. Heute führt der Rad- und Fußweg an dieser Stelle vorbei. Das ansehnliche Schwimmbadgebäude war wegen des oft auftretenden Hochwassers auf Stelzen gebaut; Mutige sprangen vom hohen Sonnendeck in das flache Wasser.

1954 errichtete man das neue Freibad an der Raderstraße, zunächst noch mit Mineralwasser gefüllt. Bei seinen Stadtführungen hat der Verfasser dieses Beitrages regelmäßig die Kyll mit einbezogen. Einmal beschrieb er einer Kindergruppe den Weg, den das Wasser von Gerolstein bis Köln nimmt. Dort wohnt die Oma, die in einigen Tagen ihren Geburtstag feiert. Sie soll deshalb - etwas Besonderes - eine Flaschenpost mit lieben Grüßen erhalten, auf dem Wasserweg. Von Gerolstein mit der Kyll zur Mosel, dann nach Koblenz zum Rhein und auf diesem weiter bis Köln. „Wenn dann die Oma zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle steht, kann sie die Flaschenpost auffischen." Ein Junge, bis dahin aufmerksamer Zuhörer, meinte lakonisch: „Alles Quatsch! Ich maile!" Eine Kyllgeschichte mehr!