Das Wiesental

Gisela Bender, Deudesfeld

Unser Dorf liegt eingebettet in einer Mulde, umgeben von der Eifel typischen Bergen. Das Regenwasser von den Höhen sammelte sich schon immer an der tiefsten Stelle im Dorf und fließt dann in einem gemeinsamen Bach talwärts. In früherer Zeit sagten die Dorfleute, „ett leeft de Wies roff!" Auf seinem Weg talwärts nimmt der Bach noch einige kleinere Wasserläufe aus den Nebentälern auf. Unten auf der Talsohle fließt dann alles in die Speicherbach, die dann bei der Bleckhausener Mühle in die Kleine Kyll mündet.

Zur Zeit, als noch alle Leute in unserem Dorf von der Landwirtschaft lebten, nannten die Dorfleute das Tal „de Doorfwies". Die Wiesen dort waren begehrt. Diejenigen, die keine Wiese dort hatten, beneideten die, die das Glück hatten, dort Eigentümer einer Wiese zu sein. Zum einen lagen die Wiesen günstig in Dorfnähe und die Erträge waren gegenüber den anderen Wiesen auf der Dorfgemarkung wesentlich ergiebiger. Bis zu viermal im Jahr konnten sie gemäht werden, natürlich von Hand mit der Sense. Weil viele Bauern Wiesen brauchten, waren die Parzellen klein. Not macht erfinderisch heißt es. Die Eigentümer der Dorfwiesen erkannten, dass sie nur in gemeinsamer Arbeit die Grundstücke erschließen konnten. Weitblickend erkannten sie, dass sie hierbei das vorbeifließende Wasser nutzbar machen mussten. Gleich unterhalb des Dorfes begannen sie damit, die „Speisswäsch" entstand. Im Herbst und den ganzen Winter über wurde der Bach an einer günstigen Stelle angestaut. Hier wurden dann die Rüben gewaschen. Immer ein voller Wagen wurde ins Wasser gekippt, dann wurden die Rüben im Wasser mit einem Besen geschrubbt.

Die gemeinsamen Arbeiten gingen weiter. Mit dem Wiesenbeil hob man an den Kopfenden der Wiesen Gräben aus, durch die man das Wasser leitete. Jeder Eigentümer konnte dann an seiner Wiese kleine Gräben ziehen. Alsdann konnte jeder seine Parzelle bewässern. Sehr schnell begriff man, dass man den Wasserfluss ständig im

Auge behalten musste. Es entwickelte sich alsbald eine rege Bewässerungstechnik. Wollte der eine seine Wiese wässern, so musste er dem, der im Augenblick das Wasser hatte, den Graben zumachen. Im Volksmund entstand der bis zum heutigen Tage bekannte Ausspruch: „Der gräbt dem anderen das Wasser ab!" Damit sich die Arbeit lohnte und möglichst lange das abgezapfte Wasser die eigene Wiese bewässerte, musste man einen Zeitpunkt wählen, wo man sicher wusste, dass der Nachbar gerade nicht ans Wässern dachte. Nur so behielt man eine Zeitlang das Wasserrecht. Das mildere Klima im Talkessel und die permanente Feuchtigkeit sicherten fortan die Graserträge. Dann änderten sich die Zeiten. Mit dem beginnenden Wirtschaftswunder in den 50er-Jahren änderten sich auch die Bewirtschaftungsformen der Wiesen. Immer mehr Wiesen blieben ungenutzt liegen, weil die Eigentümer die Landwirtschaft aufgegeben hatten. Wie aber konnte man die Wertigkeit des Tales künftig erhalten? Wieder einmal war es das Wasser, das dem Tal neues Leben einhauchte. Einige Fischweiher wurden angelegt. Es etablierte sich hier eine neue Freizeitgestaltung für Angler und Hobbyfischer. Der Weg hinab ins Tal wurde von der Gemeinde ausgebaut und geteert. Unser Dort hatte sich sehr früh den Status eines Luftkurortes erworben. Fortan sah man Touristen überall. Manchmal glaubte man gar, es gäbe mehr Touristen als Einheimische im Dorf. Der tägliche Spaziergang im Wiesental trug wesentlich zur Erholung der Gäste bei. Wiesental, so hieß unser Tal fortan. Heute spielt das Wiesengras keine Rolle mehr, wohl aber das Wasser, das nach wie vor unbelastet aus dem Boden fließt. Dazu der natürliche Charakter der Landschaft. Wäre ich am entferntesten Winkel dieser Welt, und hörte ich dort das Volkslied „Im schönsten Wiesengrunde...", mit geschlossenen Augen sähe ich dann unser einzigartiges Wiesental vor meinem geistigen Auge. Ein starkes Stück Heimat!