Die Blumen aus dem Engelkörbchen

Wilhelm Thelen, Bonn

Unter der Hustley, „auf der anderen Seite", also jenseits der Kyll in Gerolstein, standen am Kasselburger Weg eine Reihe Häuser für kinderreiche Eisenbahnerfamilien. Für jede gab es zur Kleintierhaltung in einem Nebengebäude auch noch einen Stall, außerdem lag gegenüber dem Haus noch ein großer Nutzgarten. Die Gerolsteiner hatten schnell nach ihrer Errichtung Namen für die Häuser gefunden, ein großes hieß: „Die zwölf Apostel" ein anderes: „Die acht Seligkeiten", und in diesem wurde ich 1926 geboren. Meine Erinnerungen an jene ersten Jahre sind natürlich die an meine Eltern und Geschwister, aber sie sind auch bevölkert von Zickelchen und Küken und deren Müttern. Doch zu einem ganz besonderen Revier, unserem Garten, hatten diese keinen Eintritt. Und so war es immer ein besonderes Erlebnis für mich, an der Hand von Mama die steinerne Treppe empor zu gehen, die durch die Gartenmitte führte. Beidseitig lagen die Beete terrassenförmig bergan, von niederen Steinmauern getragen. Möhren und Kräuter gediehen auf ihnen, Erbsen und Bohnen, verschiedene Kohlsorten und Salate. Es leuchteten aus dem satten Grün der Sträucher rote und schwarze Johannisbeeren hervor, und Mama zeigte mir auch die allzeit zum Stechen bereiten Stachelbeerenzweige (die mir demheem „Krieschele" nannte).

Doch an einem warmen Sommertag erschien mir unser Terrassengarten wie von Zauberhand verwandelt. Die vormals grauen Steinmauern waren übersät mit herabhängenden grünen Ranken, bedeckt mit leuchtenden Blüten in Gelb und Orange. Mama sah mein Erstaunen und meine Rührung auf diese wunderbare Verwandlung in meinem Gesicht. Meine Frage beantwortete sie geheimnisvoll: „Sicher waren letzte Nacht die Engel in unserem Garten und haben aus ihren Körbchen diese Blumen verstreut". O, ich glaubte ihr jedes Wort, denn Engel und Schutzengel waren in meiner Kinderwelt noch allgegenwärtig. Glücklicherweise besitze ich dieses Foto, aufgenommen zum Zeitpunkt dieser Geschichte, das meine älteste Schwester Lisbeth ganz rechts und mich als Zweijährigen neben ihr zeigt, Niemand konnte damals ahnen, dass nur fünf Jahre später, Lisbeth, selbst noch ein Kind, die schwere Aufgabe als unsere fürsorgliche Ersatzmutter nach dem allzu frühen Tod unserer Mama für uns fünf andere Geschwister übernehmen würde. Doch in all den Jahren seit dieser für mich wundersamen Verwandlung der Steinmauern unseres Terrassengartens und der liebevollen Deutung durch meine Mama, ranken die gelben und orangen Blüten in meiner Erinnerung. Wo immer ich mich als Hobbygärtner betätigen konnte, säte ich Kapuzinerkresse aus. Neben ihrer Schönheit und Nützlichkeit erinnert sie mich an meine liebe Mutter. Trotz all ihrer Arbeit und Pflichten hatte sie mir einst diesen kostbaren, mit ihrer Liebe gefassten Edelstein fürs Leben geschenkt.