Leben an der Kyll

Franz-Rudolf Molitor, Mürlenbach

Ich erinnere mich noch gut: Meine Schwester und ich liegen schon in den Betten. Da geht die Tür auf. Mein Vater kommt herein und zeigt uns zwei große, schwere Nasen, hängend an einer umgebogenen Weidenrute. Die Fische aus der Familie der Karpfen bevölkern noch zahlreich die Kyll meiner Kindheit um das Jahr 1960. Das Haus meiner Großeltern lag direkt an der Kyll, nur getrennt durch einen schmalen Streifen Wiese und den fruchtbaren alten Bauerngarten. Ein Pfad aus großen grauen Steinplatten führte hinunter zum Fluss. Ging man zu den Großeltern, ging man immer auch zur Kyll, denn der Fluss war stete Verlockung, Versprechen und ebenso Geheimnis - für Kinder, wie auch für all die Erwachsenen, die sich das Kind im Innern bewahrt hatten. Um trockenen Fußes Wasser schöpfen zu können, hatte der Großvater eine riesige Steinplatte am Ufer eingelassen, und sie hat es über die Jahrzehnte für sich bewahrt, wie sie all die Hochwasser an gleicher Stelle liegend überstanden hat.

Dort lag unser Floß. Zeitlos wie das Wasser, das unentwegt unter ihm hindurch floss. Und so weiß ich auch nicht mehr, ob es noch das Floß meines Vaters oder schon das meiner Freunde und mir war, als Tante Ännchen eine Flussfahrt machen wollte. Städtisch im Auftritt, zum Anbeißen wohlgenährt und ständig bereit, aufs herzhafteste zu Lachen. Damit das Floß nicht abtrieb, war es mit einem langen Seil an einem Pflock befestigt, welcher nahe der Steinplatte im Ufer stak. Mein Vater sicherte mit der Leine und Tante Ännchen stakte stehend zum anderen Ufer. Als sie sich in der Mitte des Flusses befand, zog mein Vater einmal ruckartig am Seil. Nur wer mit solch einer Leibesfülle gesegnet ist, kann auch so herrlich ins Wasser plumpsen! Ihrem Gemüt entsprechend stimmte sie beim prustenden Auftauchen aus der sommerwarmen Kyll in unser Lachen ein. Mein Vater war ein Angler. Die Freude am Fischen hatte ihn seit seiner Kindheit nicht mehr losgelassen. Mit einer gespließten Rute - damals für wenig Geld zu bekommen; heute gesuchte, teure Raritäten - stellte er Forellen und Äschen mit der künstlichen Fliege nach, sooft er Zeit dazu fand. Eines der schönsten Geschenke, die er mir gemacht hat, gab er mir bald, nachdem ich das Laufen erlernt hatte: die Freude am Angeln und die Liebe zur Kyll; zu unserer Kyll. Seiner Konzentration auf die steigende Forelle oder die fast unmerklich an der Oberfläche des Wassers Fliegen aufschlürfende Äsche hatte es meine ältere Schwester zu verdanken, dass sie zweimal, vom Vater zunächst unbemerkt, ins Wasser fallen durfte. Beim drittenmal, es war Kirmessonntag und die Verwandtschaft saß ebenso zahlreich wie feiernd unter der Linde an der Kyll, verlor sie beim „Schätze suchen" plötzlich das Gleichgewicht und trieb schnell ab, Kopf oben Kopf unten auf den starken Rausch beim Haus vom Lehrer Merges zu. Ich lief am Ufer nebenher und schrie.

Nie habe ich meinen Vater sportlicher erlebt: Wie ein Hürdenläufer „lief er über einen hölzernen Weidezaun direkt in den Fluss und bekam meine Schwester noch vor dem unruhigen Wasserabschnitt zu fassen. Kopfüber hat sie anschließend einen großen Teil der Kyll wieder herausgerückt. Aber diese mehrmaligen, ungewollten „Vollbäder" haben die Beziehung meiner Schwester zum Wasser nachhaltig geprägt. Im Nähkasten meiner Oma lagen immer jede Menge „Spingeln" (Stecknadeln). Die waren nicht aus Stahl und ließen sich daher auch von Kinderhand leicht zu Haken biegen. Ein Stückchen Angelschnur aus dem Vorrat meines Vaters und einen unglücklichen Wurm aus dem nie versiegenden Vorrat unter den dicken Steinplatten des Gartenpfades gezogen - und meine Lieblingsbeschäftigung konnte beginnen. Schulen von Elritzen bevölkerten damals die Uferregionen. Hunderte, von denen man versuchte, die dicksten zum Anbeißen zu verlocken. Die Fischlein wurden herausgeschnellt und landeten hinter einem im Gras, wo nicht selten Katzen und die damals noch zahlreich vorhandenen Hühner schon auf diese geschuppten Leckerbissen warteten.

Günter, der Junge von der Bahnhofsgaststätte auf der anderen Kyllseite, war oft mit von der Partie. Die Frau vom Bahnhofsvorsteher Backes erfreute ihre Lieben am Sonntagmorgen wohl gerne mit einem Frühstücksei, welches von glücklichen Hühnern als Dank für das große Freilaufgehege bereitwillig gelegt wurde. Da sich im schönen Mürlenbach jedoch auch gerne Sperber und Habichte hin und wieder nach Essbarem umsahen, hatte der Bahnbeamte das Gehege nach oben hin mit Maschendraht gegen diese fliegenden Wegelagerer abgesichert. Wir fischten wieder einmal am Einlauf des Braunebaches in die Kyll, gleich vor dem Backes'chen Hühnergehege. Günter hatte eine dicke Elritze am Haken und schnellte den Fisch in gewohnter Manier hinter sich, genau vor die Schnäbel der hungrigen Federschar. Das Glücklichste - oder Unglücklichste - verschlang den kleinen Fisch, so schnell er durch die Maschen fiel; leider noch am Haken. Nun machte Günter den Fehler und wollte seine Angel wieder zurückziehen. Das derart in die Höhe gezogene Hühnchen reagierte darauf mit lautem und angstvollem Gegackere, welches nach kürzester Zeit den Unheil ahnenden Schrankenwärter auf den Plan rief. Wie es dann weiter ging, weiß ich nicht mehr, denn wir stoben alle auseinander. Nur Günter ließ seine Angel nicht los ... - Die Gerüche! So konnte nur die Kyll riechen. Nach Fisch, Flusswasser und würziger Pestwurz duftend weckte sie stets meinen Jagdtrieb, meine Neugier und vor allem warme, heimatliche Gefühle. An Kolken, Rückläufen und aus dem Wasser ragenden Steinen konnte man den Fluss bei seinen Selbstgesprächen belauschen. Wenn es dämmerte und man nicht mehr viel vom Wasser sehen konnte, dann schien er immer am gesprächigsten. Er gluckste leise in sich hinein, murmelte verträumt vor sich hin, plätscherte mal lauter oder leiser, rauschte laut und kraftvoll durch die Schnellen oder spielte sanft mit kringeligen Wellen. Nach starken Regenfällen oder bei den Schneeschmelzen zeigte die Kyll jedoch auch ihr anderes Gesicht. Dann achteten die Eltern noch mehr als sonst, dass wir nicht in ihre Nähe kamen. Braune Wassermassen überfluteten die ufernahen Wiesen, stauchten sich an Untiefen zu großen, unheilvollen Wellenbergen und rissen fort, was nicht niet- und nagelfest war. Die Lagerplätze der weiter flussaufwärts gelegenen Mineral-Brunnenbetriebe wurden in jenen Jahren regelmäßig von den Fluten heimgesucht und hölzerne Sprudelkisten in ungezählter Menge mit auf die große Reise genommen. Dann sah man überall Erwachsene, welche mit langen, hakenbewehrten Stangen versuchten, die Kisten an Land zu ziehen. Was gab es Spannenderes, als nach den Hochwassern die immer flussabwärts gebürsteten Ufer nach Treibgut abzusuchen!

Der verlorene Reichtum

Die Kyll war damals noch so voll mit Fischen, wie man es sich heute nicht mehr vorstellen kann. Forellen, Äschen, Barben, Nasen, Döbel, Hechte, Aale, um die wichtigsten zu nennen. An den ruhigen Rändern der Ufer Schulen von Elritzen, am Grunde große Familien von Gründlingen. Unter den Steinen am Flussgrund - jeder Stein eine Wundertüte - versteckten sich Mühlkoppen, Schmerlen und Flusskrebse. Von allen Arten gab es Junge und Alte, Kleine und Große im Überfluss und immer konnte man sicher sein, an jeder erfolgversprechenden Stelle auch einen Fisch fangen zu können. In Schnellen, Gumpen, Rückläufen und in den Krautbetten des flutenden Hahnenfußes, hinter dicken Steinen und im Wasser liegenden Baumstämmen, am Grund und dicht unter der Wasseroberfläche - überall bot uns die Natur einen selbstverständlichen und überbordenden Reichtum in einer Fülle, die wir so leichtfertig verspielt haben. Im Juni, wenn das ewige Werden und Vergehen seinem alljährlichen Höhepunkt zustrebte, hatte das Fliegenfischen an der Kyll seinen ganz besonderen Reiz. Zu Beginn der Dämmerung setzte der bei Fischern stets ersehnte Abendsprung ein. Dann zogen Myriaden von Fliegen in dichten Wolken flussaufwärts zu Liebe, Tanz und Tod. Oft war ich dicht bedeckt von Eintags-, Steinoder Schlammfliegen, dazu meine Fliegenrute; und selbst auf der Schnur saßen sie dicht an dicht. Das Festmahl - nein, das große Fressen konnte beginnen und überall stiegen die Gefräßigen und malten kleine und große Kringel auf die Wasser. Wer nicht nur den Fisch und den Sport sah, der konnte von den so typischen Gerüchen des Wassers, den Lichtstimmungen des vergehenden Tages und vom tief befriedigenden Gefühl des Einklangs mit der Natur reich belohnt nach Hause zurückkehren, selbst wenn das Weidenkörbchen einmal leer geblieben war.

Diese Zeiten sind längst vorbei

In der Mitte der sechziger Jahre fiel ein Silo der Pelmer Kalkwerke auf Bahn und Kyll. Der Fluss trug stundenlang sein grau-weißes Totenkleid und ein gesamtes Flussökosystem trieb kopfüber unter der Mürlenbacher Brücke hindurch, auf der die Menschen fassungslos zuschauten, viele mit Tränen in den Augen. Arbeiten am Flussbett, der Niedergang der traditionellen Landwirtschaft, Trockenlegungen in ihren Einzugsgebieten, die Aufgabe der Pflege der in sie mündenden Bachläufe verbunden mit sinkenden Grundwasserspiegeln; all das hat aus der Kyll im Laufe der Jahre einen anderen Fluss gemacht.

So geschwächt nimmt sie seit etlichen Jahren den letzten Aderlass hin, den zunehmende Bestände an Fischreihern und aufkommende KormoranPopulationen, im Schatten einer desinteressierten Politik einerseits und einer Naturschutzorganisation andererseits, welche nicht über den eigenen Tellerrand zu sehen bereit ist, ihr zufügen. Kein edles Wild, kein Brunftgeschrei, die Pachteinnahmen geringfügig und die Kreatur stumm - die Kyll und der Fisch haben keine Lobby, und so beschränkt sich denn auch das „Management" der für diesen Schatz des Kylltales zuständigen Genossenschaft auf ungeliebtes Abhaken von seelenlosen Tagesordnungspunkten und auf alljährliches Einsetzen von fremden Fischen; einzig dem Zweck dienend, zahlende Angeltouristen bei der Stange zu halten. Ich wünsche meiner Kyll einen Weg zurück und die Aufmerksamkeit, die mittlerweile vielen deutschen Flüssen wieder zuteil wird; mit umfangreichen Renaturierungs-maßnahmen, welche die Ökologie und nicht die Ökonomie an die erste Stelle setzen.

PS: Meine dickste Forelle aus der Kyll, gefangen mit einer kleinen künstlichen Fliege ohne Widerhaken, war ein Mordsdrum, die man bei geringerer Größe auch Regenbogenforelle nennt. Sie war 72 cm lang und wog über 5 Pfund. Die 10 Prozent Anglerlatein, die ja doch jedem Angler unterstellt werden, habe ich deshalb gleich hinzugerechnet.