Kletterpartie zu den Höhlenmenschen

Gertrud Becker, Gerolstein

Nachdem am 24. April 1944 US-Jabos einen Zug von Daun nach Gerolstein beschossen hatten, und dann am 1. Mai Familien, die an diesem Feiertag überall auf den üblichen Spazierwegen unterwegs waren, Richtung Löwenburg, Heiligenstein, Kasselburg oder Büschkapelle, aber auch die hoch oben auf der Munterley, die diesen Flugzeugen noch, wie es damals Sitte war, zunächst freundlich zugewinkt hatten. Jetzt mussten sie sich unter dem Feuer der Bordkanonen auf die Erde werfen und sahen dabei, wie diese Jabos im Tiefflug Bahnhof und Stadt beschossen - spätestens da wussten alle, jetzt waren wir an der Reihe. Eiskalte Angst machte sich breit in jedem Haus. Denn für Gerolsteins Bevölkerung gab es keinen einzigen Luftschutzbunker. Darum flohen viele Familien rechtsrheinisch zu Verwandten oder Freunden, manche gar bis Thüringen. Sobald Sirenen heulten, liefen die Daheimgebliebenen in ihren eigenen oder der Nachbarn Kartoffel- oder Kohlekeller. Nur wenige der im Ort verbliebenen Männer verfügten über genügend Kraft, um für ihre Familien im Wald ein Loch zu graben. Manche Gerolsteiner suchten Schutz in den eisigen Felsenhöhlen, doch war darin nur Platz für einen geringen Teil der Einwohner. Alte und Kranke mussten zu Hause ausharren. Nach dem schweren Bombenangriff vom 21. September 1944 misstrauten meine Eltern unserem Vorratskeller, der uns bei weiteren Bombardierungen keine Chance zum Überleben geboten hätte. Darum grub mein Vater mit Onkel und Vetter im Bereich der Munterley, neben der „Uess", eine kleinere Höhle weiter aus. Dank dieses klugen Weitblicks überlebten meine Eltern dort mit uns drei Geschwistern und dem Vetter die schwere Zerstörung Gerolsteins, der auch unser Wohnhaus, Stall und Scheune, mit allem was darin war, zum Opfer fiel. Wir hausten fortan im Fels wie Höhlenmenschen, schleppten die notwendigsten Nahrungsmittel herauf und auch das Wasser mit Kanistern aus einem Bach, in ständiger Angst unterwegs vor neuem Bombenterror oder dem Beschuss durch Jabos, für die wir im Schnee ein leicht zu sehendes Ziel waren. Wir waren Zeugen, wie Gerolstein unterdessen in ein Ruinenfeld verwandelt wurde. Die Nachricht von in den Trümmern ihrer Häuser umgekommenen Bekannten oder Nachbarn erschütterte uns jedes Mal erneut. Es zermürbte unsere Kraft zum Überleben. Das heißt, wir schleppten uns mit Überleben beschäftigt durch den Tag und dann mit weniger Kraft durch den nächsten, all diese Monate bis zum Ende des Krieges, das heißt, bis zum Einzug der Amerikaner Anfang März 1945. Seit alle kriegstauglichen Männer an der Front waren, waren Frauen und Mädchen zur Männerarbeit verpflichtet worden. Sie waren Schaffnerinnen, Feuerwehr oder fuhren in Städten, wo es sie noch gab, die Straßenbahnen. Ich war damals in Gerolstein als Briefträgerin eingesetzt und brachte die Post zu den Menschen in ihren eisigen Notquartieren. Es war in diesem besonders harten Kriegswinter 44/45 ein sehr gefährliches Unternehmen. Man musste genau wissen, wo unter dem Schnee sich die schmalen Pfade verbargen. Danach gab es oftmals gefährliche Kletterpartien für mich, denn manche Höhlen lagen versteckt und auch hoch, sie waren nur über vereiste Holzleitern zu erreichen. Auf diese beschwerliche Weise lernte ich die steinernen Verstecke der Höhlenmenschen im alten Felsen unserer Munterley kennen, der solches Elend und eine derartige Verwüstung in seinen 380 Millionen Jahren wohl noch nie erlebt hatte.