Meine Glocken

Gertrud Becker, Gerolstein

Am 27. Dezember 1944 verloren wir bei einem Bombenangriff unser Haus mit allem darin, Stall und Scheune und fast unseren gesamten Viehbestand. Beim schweren Bombenangriff am 2. Januar 1945 fielen nochmals Bomben in die Trümmer, es schien uns so, als sollte kein Stein mehr auf dem anderen bleiben. Wir suchten Schutz in den Felsenhöhlen und fanden Obdach bei unseren Verwandten. Wir mussten weiterhin die Höhlen benutzen, denn die Angriffe der Bomber nahmen weiter zu.

Dann bot uns der evangelische Pfarrer, Herr Bernhard Wiebel, eine Unterkunft an. Er war uns ein guter Freund und Nachbar, obwohl wir katholisch waren. Er überließ im Februar 1945 unserer Familie die Keller der Kirche und des Schwesternhauses, zudem im oberen Gelände der Kirche die Garage und Nebenräume zum Wohnen, als Stallung und auch als Scheune. Als Gegenleistung wurde vereinbart, das Grundstück zu bewachen und dort zu umzäunen, wo es nötig war. Weil auch das Pfarrhaus beschädigt war, wohnte Pfarrer Wiebel mit seiner Familie in Bewingen bei der Familie Pawlack. Mein Vater übernahm alles, sah gewissenhaft nach allem, denn auch die Kirche und Schwesternhaus waren sehr getroffen. Eine unserer Aufgaben war auch, morgens, mittags und abends die Glocken zu läuten.

Dass wir katholisch waren, war den evangelischen Glocken egal. Sie ertönten wunderbar harmonisch, wenn wir drei Geschwister uns an den dicken Seilen ins Zeug legten. Und so hallte über dem zerstörten Gerolstein wenigstens das intakte Geläut der Erlöserkirche, die ihre Stahlglocken behalten hatte. Von unserer katholischen Kirche waren sie ja eingeschmolzen worden. Wir läuteten die Glocken vier Jahre lang. Jedes Jahr an Sylvester stiegen wir mit unseren jungen Freunden im vierzig Meter hohen Turm der Kirche hoch. Es war ein gefährlicher Aufstieg in der Dunkelheit und auch wegen der zum Teil beschädigten Halterungen. Oben bei den Glocken, auf die Simse der Schallfenster stellten wir Kerzen und begrüßten auf unseren Blockflöten das Neue Jahr.

Gerolsteiner, die sich noch daran erinnern können, fragen mich hin und wieder beim Klang der Glocken aus der Erlöserkirche: „Hörst Du, wie schön deine Glocken läuten?" Ja, ich höre sie heute noch gern, denn sie erinnern mich an sehr schlimme, aber auch an schöne Zeiten.

Erlöserkirche Gerolstein, gemalt von Gertrud Becker