Das Christkind ging vorüber

Helmut Müller, Mannebach

Die Adventszeit ist hier, und ich muss mit schwerem Herzen damit fertig werden, zum ersten Mal das Weihnachtsfest ohne meine gute Mutter durchzustehen, denn sie starb vor wenigen Wochen am 9. November 2011. Während ich schreibe, gehen meine Gedanken hin zu den Weihnachtserinnerungen, die sie mir aus ihrer Kindheit erzählte. Sie wurde am 4.12.1926 geboren, in den Beginn des langen kalten Eifelwinters hinein und in eine Zeit, als es ihrer Familie wie vielen anderen in den kleinen Eifeldörfern noch schlecht ging. Trotz schwerster Arbeit blieben die meisten so arm, dass sie nur knapp satt wurden und schon dankbar waren, wenn das Notwendigste beschafft werden konnte, Kleidung und für jeden ein paar Schuhe an die Füße. Und trotzdem, die Kinder hatten auch damals ihre hellen Träume und ihre kleinen Wünsche, da war ja das Christkind, und sein Kommen, und dass es vielleicht das eine oder andere kleine Geschenk mitbrachte. Das erwärmte ihre kleinen Herzen, auch wenn es außerhalb der Küche, eisigkalt im Hause war. So hatte sich die kleine Gertrud, damals fünf, nichts sehnlicher vom Christkind gewünscht als ein Krippchen, wie einige andere Kinder im Dorf es auch schon unter dem Christbaum stehen hatten. Und das Christkind hört einem ja nur zu, wenn man schön artig ist und viel betet, und dann bringt es einem vielleicht das, was man sich so sehr wünscht. Als Weihnachten kam, schaute Gertrud vergeblich nach dem Krippchen, es war weder unter dem Christbaum noch in irgendeiner Ecke des Hauses versteckt. Ihre Enttäuschung verlor sich erst im Frühjahr mit dem Sprießen der ersten Blumen. Vor allem die duftenden, die Veilchen und Schlüsselblumen hatten es ihr angetan. Und im Sommer gab es draußen auch soviel anderes zu tun. Aber dann, im Advent, da war man ans Haus gebunden, da dachte man wieder an das Christkind. Dieses Mal wollte Gertrud doch lieber selbst den Grundstock zum Krippchen vorbereiten. Sie fand im Schuppen genug Holzstücke, auch ein paar passende Brettchen, und nagelte das, so gut sie es konnte, zusammen, um wenigstens das Äußere einer Krippe zu haben. Dieses windschiefe Häuschen legte sie sorgfältig mit selbst gesuchtem Moos aus und stellte es hoffnungsfroh in der Stube auf den Schrank. Jeden Abend betete sie nun inständig, das Christkind möge doch bitte da hinein Maria und Josef mit dem Jesuskind im Kripplein stellen. Beim Beten und Bitten kamen ihr auch noch Bilder von Ochs und Esel, von den Hirten mit den Schafen in den Sinn, und als sie darüber einschlief, wanderten von ganz ferne in ihren glücklichen Traum auch noch die Heiligen Drei Könige herbei, angezogen vom hell leuchtenden Stern über Bethlehem. Aber als Gertrud am Morgen erwachte, war es nur das Jesuskind mit Maria und Josefja die möge das Christkind doch bitte bringen, dann wollte sie sich hundert Jahre lang nichts weiter mehr wünschen.

Als Weihnachten wieder mal vergangen war, ohne dass sich ihr Häuslein gefüllt hatte, versuchten die Eltern sie zu trösten, indem sie sagten, in dem großen Schneesturm habe das Christkind ihr Haus vielleicht gar nicht finden können. Allein die Katze fand das alles so bestens, denn im leeren Häuschen machte sie es sich jetzt auf dem Moos gemütlich. Im Jahr darauf war Gertrud im Advent zu Besuch bei ihren Großeltern in Hörschhausen. Ihr Onkel Johann fragte sie ganz obenhin, mehr nur so zum Spaß, ob sie denn schon fleißig zum Christkind gebetet habe. Sie antwortete völlig ernsthaft und aufrichtig: „Ja, schon ganz viele Rosenkränze und viele, viele Vaterunser, weil ich mir doch jetzt so sehr eine kleine Puppe wünsche!"

Der Onkel schüttelte lächelnd den Kopf und sagte:

„Ach Kind, das muss dir doch endlich jemand mal sagen, du bist doch schon groß genug dafür und sollst es endlich wissen: Es gibt doch gar kein Christkind und auch keinen Nikolaus. Wenn deine Eltern dir nichts kaufen, dann bekommst du ganz einfach nichts!" Dem kleinen Mädchen brach eine Welt zusammen. Die harten unbedachten Worte des Onkels zerrissen mit einem Schlag all den hoffnungsreichen Zauber und all das Geheimnisvolle, welches ihr Weihnachtsfest umgab. Das Kind stand lange mit gebeugtem Kopf da, es vermied auch, mit seinen Eltern darüber zu reden, weil es glaubte, damit noch mehr zu verderben. Im Herbst darauf, nach der Ernte, schnitzte Gertrud sich aus einer Futterrübe die grobe Form einer Puppe. Die umwickelte sie mit einem Fetzen Tuch. Die Rübenpuppe wurde gewiegt und liebevoll umher getragen. Gertrud sprach mit ihr und ließ sie von ihrem Milchglas trinken. Das Spiel währte nichtlange, die Rübe begann rasch zu faulen und musste fortgeworfen werden. Trotzdem gab es auch richtige Lichtblicke in der frühen Kindheit meiner Mutter. Vornehmlich in Meisental, wo direkt neben der kleinen Dorfkirche ihre Patin wohnte. Von dieser wurde sie oft eingeladen. Eines Tages zimmerte ihr Onkel ihr sogar ein kleines Wägelchen aus Holz. An einem Frühlingstag dort, als wieder einmal so duftend und üppig die wunderbaren Schlüsselblumen blühten, pflückte Gertrud Strauß um Strauß, bis ihr Wägelchen damit gefüllt war, das brachte sie in die Kirche. Am anderen Morgen, als der Pastor die Messe lesen wollte, sah er das Wägelchen voller Schlüsselblumen direkt vor dem Altar stehen, er wusste ja, wem es gehörte, und er lächelte. Ich denke heute, das tat unser Herrgott auch.