Immer, wenn Du denkst, es geht nicht mehr ...

Helene Dümmer, Hillesheim

Christine, die bäuerliche Hausfrau, nahm ein wenig erschöpft Platz auf der kleinen Küchenbank. Sie wollte kurz verschnaufen, denn seit sechs Uhr in der Frühe hatte sie ohne Pause für ihre Großfamilie gewirkt. Dabei erfuhr sie umsichtige Unterstützung von ihren beiden unverheirateten Schwestern Ammi und Bäbchen. Die Geschwister hatten sich die alltäglich wieder zu bewältigende Hausarbeit friedlich und gut aufgeteilt. Christine sorgte mit Ammis Unterstützung für Küche und Haus, während Bäb-chen mit gutem Geschick und ausgezeichnetem Geschmack für die ganze Familie nähte. Christine war die einzige der vier Geschwister, die mit ihrem Ehemann Matthias eine Familie gegründet hatte. Das Paar war stolz auf acht gesunde Kinder, was 1919 nach dem entsetzlichen Krieg fast an ein Wunder grenzte, wofür man dem Herrgott täglich dankte. Die Großfamilie lebte bescheiden. Matthias arbeitete im Steinbruch Lühwald, der in der Nähe des Dorfes lag. Er verdiente bares Geld und sorgte in der Form für seine Lieben. Um die Erziehung der Kinder bemühten sich alle Erwachsenen des Hausstandes. Abends saß man zusammen, sprach über die Erlebnisse des Tages, spielte Karten oder Brettspiele, oder es wurde gemeinsam gesungen. Die Kinder erfuhren viel Zuwendung und Geborgenheit. Es läutete zum „Engel des Herrn", und da in der Küche noch keine Uhr vorhanden war, wusste Christina nun, dass sie nebenan, den Tisch sorgfältig zu decken hatte, denn dort sorgte der mit Holz bestückte Ofen für eine angenehme Temperatur. In wenigen Minuten würde ihr Mann aus dem Steinbruch zum Essen erscheinen, auch die Geschwister würden eintreten, und vor allem würden bald die hungrigen Schulkinder ankommen. Christine fuhr plötzlich zusammen, als sie vom Flur her ein undefinierbares Geräusch wahrnahm.

Sie eilte in den Flur und fand ihren Matthias auf dem Boden liegend. Sie schrie so entsetzlich, dass die Geschwister herbei stürmten, nichts Gutes ahnend. Sie alle sprachen auf den Schwager ein, mussten jedoch zur Kenntnis nehmen, dass er nicht mehr atmete. Matthias war an Herzversagen verstorben. Mit einem solchen Ereignis hatte niemand rechnen können, denn Matthias hatte nie über Beschwerden geklagt. Nachbarn wurden verständigt. Während sich Frauen um die fassungslosen Angehörigen kümmerten, wurde der Verstorbene von den Männern eingesargt und in der guten Stube würdig aufgebahrt, eine Leichenhalle kannte man 1919 noch nicht. Ein Nachbar spannte die Ochsen vor den Wagen und fuhr zum Pfarrhaus nach Niederbettingen, der Pfarrer kam sofort mit, spendete die letzte Ölung , betete mit der Familie und sprach ihnen tröstende Worte zu. Alle Mitbewohner des kleinen Ortes waren erschüttert über den Tod eines vergleichbar jungen Familienvaters, der noch nicht einmal die Mitte der Vierziger erreicht hatte. Viele Dorfbewohner versammelten sich an drei Abenden zum Rosenkranz-Gebet in der kleinen dörflichen Kapelle und bekundeten so ihr Mitgefühl am Kummer der Familie. Trotz des schlechten November Wetters nahmen vor allem viele Männer an der Beerdigungs-Feier teil, diese verlief ruhig und andächtig. Eine Kaffee-Tafel im heutigen Stile erwartete damals niemand. Auch Christines Schwager, ein Maurermeister aus Herforst, war angereist und verweilte einige Tage bei der Familie des verstorbenen Bruders. Dabei erkannte er die beengten Wohnverhältnisse der Großfamilie. Mit Matthias hatte er bereits Überlegungen angestellt, das Haus aufzustocken. Vor seiner Abreise versprach er, im Frühling wieder zu kommen um die neue Etage zu erstellen. Er stand zu seinem Wort.

Alle Hausbewohner, auch die Kinder, machten sich nützlich bei der Entstehung der neuen Etage. Freude und Dankbarkeit über das gelungene Werk steigerten sich noch, als der Schwager den Erwachsenen mitteilte, den Umbau habe er seinem verstorbenen Bruder zuliebe gemacht und somit sei niemand ihm etwas schuldig. Als Christ fühlte er sich der Witwe und den Waisen verpflichtet. Die Geschwister erhielten eines Abends Besuch von Lehrerin Reis und dem Steinbruchbesitzer Schaurer, dem ehemaligen Arbeitgeber von Matthias. Die Lehrerin erläuterte den Geschwistern eine zunächst ungewöhnlich erscheinende Idee. Nach ihrer Vorstellung sollten auch die Mädchen eine Ausbildung erhalten. Für Len-chen, die bald mit besten Noten die Volksschule durchlaufen habe, brachte sie schon den konkreten Vorschlag mit , ihr eine Lehrstelle als Einzelhandels-Kauffrau zu besorgen bei ihren Verwandten in Cochem, natürlich mit Familien Anschluss. Die Geschwister erbaten sich einige Tage Bedenkzeit aus. Als Lenchen das Angebot überschlafen hatte und ihre Begeisterung äußerte, erkannten auch die Erwachsenen die wahre Chance. Das Mädchen passte sich der neuen Umgebung schnell an, erwies sich als lernwillig und freundlich und bahnte so den Ausbildungsweg für zwei jüngere Schwestern an, die ebenfalls ihre kaufmännische Ausbildung in diesem Unternehmen erfolgreich absolvierten. Lenchen trat später in den Orden der Augustinerinnen ein, erlernte dort die Krankenpflege und wurde sehr schnell weiter ausgebildet zur OP - Schwester. In dieser Funktion hat sie der Ordensgemeinschaft über 50 Jahre gedient.

Auch die beiden anderen Töchter wurden durch die Vermittlung von Fräulein Reis in einem Kloster hauswirtschaftlich ausgebildet. Herr Schaurer nahm sich des jungen Sebastian an und bildete ihn zur Fachkraft im Steinbruch aus. Er lobte seine technische Begabung und war ein wenig enttäuscht, als der erwachsene junge Mann sich für ein Ordensleben entschied. Sebastian trat bei den Jesuiten ein und wurde dort zum Landschafts-Gärtner ausgebildet, eine Tätigkeit, die ihm große Freude bereitete. Leider verstarb auch er schon mit 36 Jahren am gleichen Leiden wie sein Vater. Die beiden jüngsten Söhne wirkten in der Landwirtschaft, bis Hubert zum Militär eingezogen wurde und sein Leben in Russland verlor. Christina und zwei ihrer Geschwister erreichten ein hohes Alter im Haushalt ihres jüngsten Sohnes Nikla bei guter Gesundheit. Rückblickend auf ihre Lebensgeschichte berichtete Christina mir, einer von vielen Enkelkindern, kurz vor ihrem Tod, dass sie am Tag nach dem abendlichen wohlwollenden Besuch der beiden Ratgeber ein prägendes Erlebnis gehabt habe. Als sie, wie üblich, kurz vor Mittag auf der Küchenbank verschnauft habe, sei ihr Blick haften geblieben auf dem einzigen gerahmten Spruch in der Küche, den sie zur Hochzeit geschenkt bekommen hatte. Dieser lautete: „Immer, wenn Du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her". Plötzlich sei ihr bewusst geworden, dass sie eine Fülle von Hilfsbereitschaft erfahren durfte, die sie wieder aufgerichtet hatte. Aus der Erkenntnis heraus, sei sie wie neu geboren, allmählich wieder erstarkt und habe ihre Lebensaufgabe klarer erkannt als früher.