Soldat Sengebusch wegen Fahnenflucht hingerichtet

1940 in Mürlenbach von den eigenen Kameraden erschossen

Ernst Becker, Mürlenbach

Eine ältere Mitbürgerin erzählte mir von einem Soldaten, der im Zweiten Weltkrieg, als sie noch ein Kind war, wegen Fahnenflucht in Mürlenbach erschossen wurde. Obwohl sie keine Einzelheiten des schrecklichen Geschehens kannte, war der Name des Unglücklichen fest in ihrer Erinnerung: Siegfried Sengebusch!

Die Geschichte aufzuklären und für die Nachwelt festzuhalten, erschien mir eine notwendige und reizvolle Aufgabe. Gespräche mit Zeitzeugen, Suche in Archiven, Schriftwechsel mit Behörden und schließlich Kontakte zur Familie des Soldaten Sengebusch erbrachten nach und nach Licht in die damaligen Vorgänge.

Soldat Siegfried Sengebusch

Er war am 30. August 1916 geboren. Sein Heimatort war ein Dorf im dünn besiedelten, ländlich geprägten Nordwesten Brandenburgs. Er war ohne Beruf, half bei Bauern in der Landwirtschaft, mal hier, mal dort. Zum Militär eingezogen machte er seine Ausbildung - und wurde erstmals fahnenflüchtig, wurde aufgegriffen und eingesperrt. Bei Kriegsbeginn nahm er an dem Polen-Feldzug teil (der am 1. September 1939 begann und mit der Kapitulation der polnischen Truppen am 6. Oktober 1939 endete). Als Vorbereitung auf den geplanten Feldzug gegen Frankreich wurden danach viele tausend Soldaten in die Westeifel verlegt und in Dörfern und Städten einquartiert. In Mürlenbach waren etwa 900 Soldaten untergebracht. Der Ort beherbergte somit mehr Militärpersonen als er Einwohner hatte (im Jahre 1939 = 888 Einwohner). In den umliegenden Orten bis zur Westgrenze sah es ähnlich aus. Zehn oder gar mehr Soldaten schliefen in einem leergeräumten Zimmer ihrer Quartiergeber auf dem mit Stroh eingedeckten Boden. Einer der einquartierten Soldaten war Siegfried Sengebusch, der mit mehreren Kameraden im Hause „Illgen" in der Neustadt untergebracht war. Er gehörte zum Truppenteil „Stab II/Gr.Rgt.68" mit der Feldpostnummer „26220 A".

Die Fahnenflucht und seine Verurteilung

Siegfried Sengebusch verließ sein Quartier in Mürlenbach und entfernte sich unerlaubt von der Truppe. Er zog von einem Ort zum anderen. Wenn der Boden zu heiß wurde, zog er weiter. Eine Zeit lang hat er im Raum Hamburg bei Bauern gearbeitet - wurde dort aufgegriffen und verhaftet. Wegen Fahnenflucht angeklagt, verurteilte ihn ein Militärgericht zum Tode. Er nutzte sein Recht auf einen Gnadenantrag, wie aus seinem Abschiedsbrief vom 15. Januar 1940 an die Eltern und Geschwister hervorgeht, den er aus seiner Haft schrieb.

Die Hinrichtung in Mürlenbach

Sein Gnadengesuch wurde abgelehnt. Am 17. Januar 1940, einem eisigkalten Wintertag, wurde Siegfried Sengebusch in Fesseln auf einem offenen Lastwagen zur Hinrichtungsstätte gefahren, flankiert von dem Erschießungskommando. Die Fahrt ging zu dem Gelände „An der Schindkaul", in der Nähe des später erbauten Sportplatzes. Alle in Mürlenbach stationierten Soldaten mussten zu der Hinrichtung des Deserteurs antreten. Der Verurteilte wurde an eine Fichte festgebunden und erschossen. Laut Sterbeeintrag starb er um 16.05 Uhr. Er ging seinem Tode ruhig und sehr gefasst, im Glauben an Gott, entgegen und verzichtete darauf, sich die Augen verbinden zu lassen.

Seine eigenen Kameraden mussten die Hinrichtung vollstrecken, was besonders abschreckend auf die Truppe wirken sollte. Die zu dem Erschießungskommando befohlenen Soldaten waren einer enorm hohen psychischen Belastung ausgesetzt. Ihre Gewissensfragen nach eigener Schuld bei der Erschießung sollten ihnen erleichtert werden, indem neben scharfer Munition auch Platzpatronen eingesetzt wurden.

Von dem zehnköpfigen Erschießungskommando hatten fünf Soldaten Platzpatronen und die übrigen fünf scharfe Munition. Jeder der Soldaten konnte so sein Gewissen damit beruhigen, dass vielleicht er eine Platzpatrone hatte und somit keinen tödlichen Schuss abgefeuert habe.

In dem Erschießungskommando war auch ein Bekannter aus einem Nachbarort des Verurteilten, welcher der Familie Sengebusch später von der Hinrichtung ihres Sohnes berichtete. Er selbst habe absichtlich „vorbeigeschossen".

Eine „posthum" geborene Tochter

Die größte Überraschung im Zuge meiner Ermittlungen war: Mitte August 1940 wurde Siegfried Sengebusch in Westpreußen eine Tochter geboren.

Die Hinrichtungsstätte (das Gelände heute) EhrenfriedhofKolmeshöh

Die Vaterschaft hat er offenbar als fahnenflüchtiger Soldat begründet. In seinen Abschiedszeilen an die Eltern und Geschwister erwähnt er nicht, dass er angehender Vater sei. Sicher wusste er hiervon noch nichts. Die werdende Mutter konnte ihn wohl nicht mehr verständigen, weil er inhaftiert war und sie seinen Aufenthalt nicht kannte. Seine Tochter hat erst von mir in unseren Gesprächen vom wahren Schicksal ihres Vaters erfahren und ist dafür sehr dankbar. Die verstorbene Mutter habe ihr gesagt, der Vater sei gefallen. Wollte die Mutter sie schonen - oder kannte sie die Todesumstände auch nicht?

Seine letzte Ruhestätte

Die Grabstätte des hingerichteten Soldaten Sengebusch suchte ich in Mürlenbach vergeblich. Mehrere Zeitzeugen sind sicher, dass er auf dem seinerzeitigen evangelischen Friedhof beigesetzt wurde. Dieser wurde durch Beschluss des Gemeinderates vom 27. März 1944 „wegen anderweitiger Belegung" aufgehoben und dem angrenzenden katholischen Friedhof zugeschlagen. Die Fläche wurde danach als Ehrenfriedhof gewidmet. Von dessen 24 Grabstellen ist -mitten in einer Gräberreihe - eine Grabstelle frei. In der Kriegsgräberliste des Friedhofs Mürlenbach vom 22. Januar 1954 war Siegfried Sengebusch noch aufgeführt. War die jetzt „unbelegte" Grabstelle die seine? Wurde er umgebettet - warum und wohin?

Grabstelle des Siegfried Sengebusch

Im Ort gab es auf diese Fragen keine Antworten. Meine weiteren Nachforschungen ergaben völlig überraschend, dass sich seine letzte Ruhestätte jetzt auf dem Bitburger Ehrenfriedhof Kolmeshöh befindet - Grab 1110. Die Gründe für seine Umbettung bleiben ungeklärt. Dieser Ehrenfriedhof geriet 1985 in die Schlagzeilen durch den Besuch und die Kranzniederlegungen des US-Präsidenten Ronald Reagan und des Bundeskanzlers Helmut Kohl. In allen Medien wurde kontrovers diskutiert, weil dort neben Angehörigen der Wehrmacht auch Mitglieder der Waffen-SS ruhen.

Dass auf Kolmeshöh ein hingerichteter Deserteur beerdigt ist, war bisher nicht bekannt. Die auf beiden Seiten des Atlantiks erbittert geführten Auseinandersetzungen um den Besuch der Staatsmänner auf Kolmeshöh, die sogenannte „Bitburg-Kontroverse" des Jahres 1985, wäre um einen zusätzlichen Aspekt bereichert gewesen. Die letzte Ruhestätte des fahnenflüchtigen Siegfried Sengebusch, sein Name und sein Schicksal hätten die Medien bewegt. So aber war der unglückliche Soldat, der in Mürlenbach erschossen wurde, fast in Vergessenheit geraten.