Als Großvater starb

Christine Kaula, Wipperfürth

Großvater war ein friedliebender, würdiger Greis, der ein langes, hartes Leben hinter sich gebracht hatte. Nun, im Jahre 1959, war er dreiundneunzig Jahre alt und hatte sich trotz aller Schicksalsschläge ein ausgeglichenes Wesen bewahrt. Oder war es die Resignation des Alters? Mit leichter Wehmut erzählte er mir an Winterabenden, wie ihm mehrere seiner neun Kinder, eines nach dem anderen, gestorben waren, an der „Auszehrung", wie er sich ausdrückte. Und eine Tochter - ich habe sie auf alten Fotografien gesehen - eine schöne junge Frau mit reichem dunklen Haar, versenkte sich im See. Es mag eine Liebesgeschichte gewesen sein oder eine ungewollte Schwangerschaft, er hat über die Gründe nie gesprochen. Dagegen schilderte er ausführlich, wie man sie gefunden und nach Hause getragen habe, sie habe ausgesehen, als ob sie schliefe, so lebensfrisch seien ihre Farben noch gewesen. Meine Mutter wollte ihm bei solchen Geschichten, die sich wie die Jahreszeiten regelmäßig wiederholten, ebenso regelmäßig Einhalt gebieten, aber ich flehte sie stets an, ihn doch erzählen zu lassen. Mit machten solche Geschichten aus seinem Leben keine Angst, dieweil er mich mit der steten Gegenwart des Todes im Leben früh vertraut machte. Oft wanderten wir zum Friedhof, und gewohnheitsmäßig erzählte er mir dort an den zahlreichen Gräbern seiner Kinder Episoden aus dem Leben der Familie. Er sprach auch von seiner Frau, die nicht nur meine Großmutter, sondern auch meine Patentante gewesen war, wie das in den Jahren oft üblich war. Leider habe ich sie nie kennen gelernt, da sie bereits in meinem Geburtsjahr starb. Ich erinnere mich genau, wie er mir eines Morgens verkündete, in der Nacht habe der Tod ihn holen wollen, aber er habe ihn noch um einige Lebensjahre gebeten. Großvater starb mit dreiundneunzig Jahren an mehr oder weniger Altersschwäche und war zuvor in seinem Leben nicht einen Tag schwer krank gewesen. Ich war damals zwölf Jahre alt und Großvater war mein Ein und Alles. Da warf mich eine Bemerkung meiner Mutter fast völlig aus der Bahn. „Der Opa fühlt sich nicht wohl, er ist krank." In der Tat, Großvater hatte sich schwer erkältet. Schnupfen und Husten waren bislang unbekannte Begriffe für ihn gewesen, für ihn, der den ganzen Tag draußen verbrachte und abgehärtet war. Nach ein paar Tagen, in denen er kaum das Haus verlassen konnte, stand er nach seinem Mittagsschlaf nicht mehr aus dem Bett auf. Die Mutter rief den Arzt. Der kam, beide verschwanden in Großvaters Zimmer und blieben eine lange Zeit dort. Plötzlich ergriff mich die Angst wie eine kalte Hand. Mutter und Arzt kamen aus Großvaters Zimmer und machten ernste Gesichter. Sie sahen mich nicht, weil ich mich in den hintersten Winkel des Zimmers zurückgezogen hatte. Der Arzt sprach ernste Worte, ich hörte „das hohe Alter" und „Altersschwäche", „keine Widerstandskraft", schrieb ein Rezept aus, versprach anderentags wiederzukommen und verabschiedete sich. Kaum hatte er den Raum verlassen, bestürmte ich die Mutter mit Fragen über Großvater. „Der Opa ist sehr krank", war ihre lapidare Antwort, sie wusste aber mehr, als sie mir sagen wollte, das merkte ich deutlich. Von Stund an verließ ich das Haus nur noch, um zur Schule zu gehen. Ich besuchte den Großvater täglich in seinem Zimmer, wenn ich aus der Schule kam, und wollte mit ihm sprechen, aber meistens lächelte er nur müde und schloss die Augen wieder. Nach zwei Tagen fiel er ins Koma. Der Arzt kam, schüttelte den Kopf und ging wieder. Oft flehte ich den Großvater an und rief: „Opa, Opa, erzähl mir was", aber er hörte mich nicht mehr. Vater und Mutter hatten ihr Bett im Wohnzimmer aufgeschlagen, das neben Großvaters Zimmer lag, um in der Stunde seines Todes bei ihm zu sein. Aber das wusste ich natürlich nicht. Und ganz gewiss hat man den Priester gerufen, als die Todesstunde nahte, um ihm die „Letzte Ölung", wie das Sakrament der Krankensalbung damals hieß, zu spenden. Aber daran kann ich mich nicht erinnern.

Dann kam der Tag, den ich nie vergessen habe. Als ich vom Schulbus, wie üblich in diesen traurigen Tagen, nach Hause rannte, um nach Großvater zu sehen, rief mir eine Tante, die in der Nähe der Bushaltestelle wohnte, aus ihrem Küchenfenster zu: „Heute morgen ist dein Opa gestorben!" Ich starrte sie an, ohne zu begreifen, was sie gerufen hatte. Dann, wie im Traum, und ohne ihr etwas zu erwidern, rannte ich los, überquerte die Straße, ohne auf die Autos zu achten. So schnell wie damals, bin ich noch nie zu Hause gewesen. Ich weiß noch, dass ich zur Tür hinein stürzte und ausrief: „Der Opa ist nicht tot!" Aber ich wusste, dass es so war. Vater war zu Hause und machte ein trauriges Gesicht, meine älteren Geschwister saßen um den Küchentisch herum und schwiegen. Mutter schaute mich an und nickte bloß. „Ich will Opa sehen", verlangte ich. Zuerst wollte sie nicht, aber als ich drängte und bettelte, ging sie mit mir hinüber in das Zimmer. Dort brannten zwei Kerzen, und Opa lag im Bett und war bis über den Kopf zugedeckt. Ich schaute Mutter an, das ging über mein Begreifen hinaus. Sie deckte Großvaters Gesicht auf. Oh, wie war er weiß und still, und so ganz anders als noch gestern, als er zwar nicht mehr mit mir gesprochen, aber doch gelebt und geatmet hatte. Ich starrte ihn an, ohne zu verstehen, wandte mich um, ohne auf meine Mutter zu warten, und rannte, ohne anzuhalten, durch die Küche und die Treppe hoch in mein Schlafzimmer. Wie erstarrt saß ich auf meinem Bett und schaute vor mich hin. Niemand kam, alles war still. Immer sah ich das bleiche Gesicht des Großvaters vor mir, das so fremd war, so fremd. Auf dem Kirchhof gab es noch keine Kapelle, daher wurde Großvater zu Hause aufgebahrt. Mutter und Vater wuschen ihn und kleideten ihn an, dann wurde er in den Sarg gebettet. Die nächsten Tage waren hektisch. Nachbarn und Freunde der Familie gaben sich die Klinke in die Hand. Sie alle wollten von Großvater Abschied nehmen. Nachmittags wanderten wahre Prozessionen durch unsere Küche, durch das Wohnzimmer zu Großvaters Stube, wo er, nun feierlich in seinem einzigen dunklen Anzug im Sarg lag, links und rechts von Kerzenleuchtern und immergrünen Pflanzen umgeben. Ein Palmzweig in einem Weihwasserkessel diente dazu, ihn zu segnen. Nur noch ein einziges Mal besuchte ich den Opa in seinem Sarg. „Das ist der Opa nicht mehr", war das Resultat meiner Überlegungen, „der Opa ist bestimmt unterwegs in den Himmel." Nur so konnte ich den Schmerz ertragen. Abends kamen die Nachbarn, um für den Toten zu beten. Ich beteiligte mich mit Andacht daran, glaubte ich doch auch daran, man könne ihm dadurch schneller den Eingang in den Himmel bahnen. Dann war der Tag des Begräbnisses gekommen. Draußen vor dem Haus war ein Artefakt aus schwarzem Tuch errichtet worden, in meiner Erinnerung sah dieses aus wie ein nach vorn offener Raum ohne Dach. Dorthinein hatte man den Sarg gestellt und ihn mit immergrünen Gewächsen und brennenden Kerzen in hohen Leuchtern umgeben. Der Priester erschien in schwarzem Ornat, begleitet von zahlreichen Messdienern in schwarzen Röcken, weißen Chorhemden mit schwarzen Kragen, die Weihwasserkessel und Räucherfass trugen. An die Zeremonie kann ich mich nicht mehr erinnern, sondern nur noch daran, dass der Totenwagen erschien, den ich oft hatte im Dorf fahren sehen, ein schwarzes, vierrädriges Gefährt mit einer Ladefläche und einem schwarz verhängten Himmel, gezogen von zwei Rappen. Quasten hingen an den Vorhängen, die den Blick auf den Sarg, als er hinein geladen worden war, kaum verbargen. Der Kutscher, gekleidet in eine schwarze Pelerine, Zylinder und mit weißen Handschuhen, nahm auf den Kutschbock Platz. Ein langer Zug Menschen formierte sich und zog hinter dem Wagen her, betend und singend, den ganzen Weg hinauf bis zum Friedhof. Dort segnete der Priester den Sarg noch einmal, meine Mutter brach in Tränen aus, daran kann ich mich noch deutlich erinnern. Ich selbst konnte keine einzige Träne vergießen, war wie versteinert. Wir gingen danach alle nach Hause, still und gesammelt, wo wieder Verwandte und Bekannte zum Beerdigungskaffee zusammenkamen. Abends lag ich mit hohem Fieber im Bett, es war wohl alles ein bisschen viel gewesen, vom geliebten Großvater Abschied zu nehmen. Dies war auf eine gewisse Weise der Beginn meines Erwachsenwerdens, denn es war das erste Mal, dass ich unmittelbar mit dem Tod und mit allem, was damit zusammenhängt, in Berührung gekommen war. Was ich noch genau weiß, ist, dass ich ab diesem Tag sehr oft Angst hatte, meine Eltern zu verlieren. Und da man in den 1950er-Jahren noch nicht gelernt hatte, über seine Gefühle zu sprechen, blieb ich mit meinen Ängsten sehr lange allein. Viel hat sich seit dieser Zeit in christlichen Familien nicht geändert in Gebräuchen und Sitten, die mit Tod und Sterben zu tun haben. Die Totenwagen sind zwar modernen Kraftfahrzeugen gewichen, die Totengebete werden, wenn überhaupt, in der Kirche, der Beerdigungskaffee im Lokal abgehalten. Aber eines ist doch ganz anders geworden als früher. Die Menschen sterben kaum noch in ihrem eigenen Zuhause.

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