Wichtiger war der Namenstag

Hermann Hein, Daun-Neunkirchen

In meiner Kindheit war es üblich, dass die Namenstage gefeiert wurden. Geburtstage wurden dann gewürdigt und festlich begangen, wenn ein Alter erreicht wurde, das jenseits der normalen Lebenserwartung lag. Da die Menschen zu dieser Zeit selten älter als 70 oder 75 Jahre wurden, waren Geburtstagsfeiern eher vereinzelt. Aber dann wurden Geburtstage nicht anstelle von Namenstagen gefeiert. Nein, der oder die Glückliche hatte zwei Feiertage im Jahr. Namenstage wurden nicht nur innerhalb der Familie gefeiert. Jeder im Ort kannte sämtliche Dorfbewohner/innen mit deren Vornamen. Eine große Auswahl stand unseren Vorfahren offensichtlich nicht zur Verfügung. Sie beschränkten sich auf wenige Vornamen. Da das Kind oft den Namen des Paten oder der Patin erhielt, gab es selten ein Abweichen von dieser Regel. Zudem erhielten viele erstgeborene Söhne den Vornamen des Vaters. So wurden denn auch die meisten Kinder männlichen Geschlechts auf die Namen Josef, Johann, Matthias oder Nikolaus getauft und die weiblichen hießen Anna, Maria, Katharina und Elisabeth. Mitunter wurde auch eine Kombination gewählt, z.B. Anna-Maria oder AnnaKatharina. Das war immer dann der Fall, wenn die gebräuchlichsten Namen schon vergeben waren. Die Kindersterblichkeit war bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts sehr hoch. Es war daher keine Seltenheit, dass ein bestimmter Vorname mehrmals gewählt wurde, weil die Namensträger immer früh, häufig sogar kurz nach der Geburt, verstarben. Die Namenstage waren Heiligen gewidmet. Die Tage, wann dieser Heiligen gedacht wurde, waren jedem geläufig. Die Wichtigsten, wie Matthias, Josef, Johannes oder Nikolaus,

wie Anna, Maria, Elisabeth oder Katharina, kannte jedes Kind. Begegnete man nun einem Namensträger oder -trägerin an einem dieser Tage, gratulierte man - auch wenn es auf offener Straße war - zum Namenstag. Die Namenstage waren in der Großfamilie fest eingeplant. Einer besonderen Einladung bedurfte es nicht. Traditionell am Vorabend nach getaner Arbeit traf sich die gesamte Verwandtschaft im Haus desjenigen, der morgen Namenstag haben würde. Alles war für dieses Verwandtentreffen vorbereitet. In der Wohnstube („Stuff") waren Tisch und Stühle aufgestellt, der Tisch war gedeckt, und in der kalten Jahreszeit war der Ofen beheizt. Am Tag zuvor hatte man gebacken: Streusel-und Pflaumenkuchen, sowie „Birrebunnes". Letzterer war ein Hefeteig, der einen Belag aus Birnenmus hatte. Kaffee war auch vorbereitet, meistens jedoch Malzkaffee aus selbst angebauter, gerösteter Gerste. Bohnenkaffee konnten sich viele damals nicht leisten. Der Kaffeesatz aus Bohnen wurde mindestens zweimal aufgegossen, auch wenn der zweite Aufguss kaum noch nach Bohnenkaffee schmeckte.

Nach und nach trudelten die Gratulanten ein. Und jede Familie hatte ein kleines Geschenk, manchmal ein Blümchen mit oder ohne Topf, je nach Jahreszeit Leckeres aus dem Garten wie Erdbeeren, selbst gemachte Marmelade oder einfach nur einen Blumenstrauß aus dem eigenen Garten. Jeder schenkte, was er entbehren konnte. Niemand wäre auf die Idee gekommen, bei den Geschenken immer wieder draufsatteln zu müssen, also mehr zu schenken und den anderen zu übertrumpfen. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir ein Namenstag meiner Mutter (Elisabeth, 19. November). Ihr Bruder, Onkel Jupp, war der Spaßvogel der Großfamilie. Man konnte sich darauf verlassen, dass er zu jedem Namenstag einen ganz besonderen Einfall hatte. Dieses Mal kam er mit der Schubkarre. Darauf lag ein riesengroßes Paket. Er bestand darauf, dass meine Mutter es sofort öffnete. Sie löste die reichlich vorhandene Paketschnur, öffnete den Deckel und heraus kam ein weiteres, etwas kleineres Paket. Und so ging das immer weiter, nach dem aus Russland bekannten System der Puppe in der Puppe. Paket um Paket wurde ausgepackt. Inzwischen war die „Stuff" übersät mit Kartons und zerknülltem Papier. Ganz zum Schluss kam ein kleines Paket zum Vorschein. Und das enthielt das eigentliche Geschenk: eine kleine Konservendose mit selbst gemachter Wurst. Onkel Jupp hatte, wie immer, die Lacher auf seiner Seite.

Für uns Kinder, sieben Vettern und Cousinen, waren die Namenstage sehr willkommen. Sie waren einerseits eine Abwechselung des allabendlichen Zeitvertreibs (Kartenspiel, Mensch ärgere dich nicht, Halma usw.). Andererseits schätzten wir diese Tage, weil wir lange aufbleiben durften. Wir kamen mit unseren Eltern und gingen auch wieder mit ihnen nach Hause, meistens erst gegen Mitternacht. Nach Kaffee und Kuchen saßen die Erwachsenen zusammen und erzählten sich immer wieder dieselben Geschichten. Die Erlebnisse aus Krieg und Gefangenschaft waren interessant, zumal die Erzähler es geschickt verstanden, die eigene Person in den Vordergrund zu schieben

Mir fiel auf, dass die eigenen Großtaten, je öfter sie erzählt wurden, zunahmen. Wir Kinder begannen uns zu langweilen. Auf ein geheimes Zeichen entfernten wir uns allmählich aus der Wohnstube und gingen nach draußen zum Spielen. Nun gab es damals noch keine Straßenbeleuchtung. Einzig und allein die Hoflampe, wenn überhaupt vorhanden, spendete ein wenig Licht. Aus Gründen der Sparsamkeit war das meistens eine 15-Watt-Birne. Wegen der spärlichen Beleuchtung war die Auswahl unserer Spiele stark eingeschränkt. Meistens war es Fangen oder Verstecken, manches Mal auch Schubkarrenrennen, wenn die Beleuchtung das zuließ. Natürlich ging das nicht sehr leise zu. Aber im Gegensatz zu heute regte das niemand auf. Allenfalls wurden unsere Eltern am Tag darauf angesprochen: „Hat die Familie Zender gestern wieder Namenstag gefeiert?"