Die Kirmes

Winfried von Landenberg, Mürlenbach

Es ist Sommer 1966 in Mürlenbach, und ein besonderes Fest steht bevor. Mein fünf Jahre jüngerer Bruder Dieter und ich unterhalten uns auf einer Wiese beim Kühehüten über das bevorstehende für uns große Ereignis. Dabei immer die fünf Kühe des Nachbarn im Auge behaltend, und auf den Knien die Schulhefte, schauen wir gedankenverloren von der Hardt ins Dorf. „Bekommen wir diese Kirmes auch so viel Besuch wie im letzten Jahr?" fragt Dieter. „Ich hoffe, dass wieder alle kommen, besonders mein Patenonkel, denn dann erhalte ich auch viel Kirmesgeld", erwidere ich. „Ich bin froh, wenn der Wienand aus Bausendorf wieder mit seiner Schießbude da ist, der nimmt es nicht so genau, wenn man nicht richtig trifft. Er gibt einem immer eine Kleinigkeit", sinniert Dieter und lässt sich zurück ins Gras fallen.

Eine solche Unterhaltung ist in der heutigen Zeit so nicht mehr vorstellbar! Neben Weihnachten, wo in früherer Zeit die Geschenke eher praktischer Natur waren - jedes Jahr der Teller mit Plätzchen und der obligatorische Pullover -, war die Kirmes eines der wichtigsten Feste im Jahr. Bereits Monate zuvor wurde etwas von dem spärlichen Lohn des Vaters zurückgelegt, damit beim Metzger auch das nötige Fleisch gekauft werden konnte. Denn beim Kirmesbraten wollte und konnte sich die Hausfrau nicht lumpen lassen, kam doch die gesamte Verwandtschaft zu Besuch. Wohl dem, der zu dieser Zeit ein Schwein im Stall hatte. Tagelang wurde das Haus auf Vordermann gebracht und die Vorarbeiten für das Familienfest ausgeführt, denn für Kirmessonntag hatte sich ja die ganze Sippschaft angesagt. Oma Käth-chen bis Patenonkel Josef nebst Kind und Kegel würden es sich an diesem Tag bei uns gut gehen lassen.

Freitag war großer Backtag. Hefetorten aller Art waren dann im oberen Stockwerk, in einem eigens dafür ausgeräumten Zimmer, zu bestaunen. Zehn an der Zahl war das Mindeste, um die in etwa fünfundzwanzig hungrigen Mäuler beim Nachmittagskaffee zu stopfen. In der Mitte strahlte die Butterkremtorte einen an. „Dieter und Winfried, dass ihr euch ja ordentlich benehmt, wenn der Besuch kommt", mahnte die Mutter bereits seit einer ganzen Woche, denn sie kannte ihre beiden Sprösslinge zur Genüge. „Und das, Günter, zählt auch für dich!" Nach den wirklich harten Strapazen der Vorbereitungen war Mutter am Samstagabend fix und fertig. „So, jetzt denke ich, haben wir alles erledigt, und der Besuch kann kommen", sagte sie und fiel in den wohlverdienten Schlaf. Bereits am Samstag waren wir nicht mehr zu halten, denn wir wollten sehen, welche Attraktionen denn nun diese Jahr auf dem Kirmesplatz aufgebaut würden und ob es vielleicht etwas Neues zu bestaunen gäbe. Das Gerüst für die Schiffschaukel stand bereits, und auch die Schießbude machte Fortschritte. Mehrere andere Buden waren noch nicht so weit, aber die Wagen der Schausteller standen schon da. Abends um sechs Uhr mussten wir wieder zu Hause sein. Noch lange in der Nacht tuschelten wir unter der Bettdecke, wie es denn morgen werden würde. Hauptthema war das Kirmesgeld. Irgendwann schliefen auch wir ein.

Zwölf Mark - gut angelegt

Der Sonntag war gekommen, und der Pfarrer wollte und wollte mit der Predigt nicht aufhören. Er schimpfte über die Politik und über alles Mögliche. Nach sage und schreibe fast zwei Stunden war es dann soweit, und es ging nach Hause, die Kirmesgäste zu empfangen. Großes „Hallo" und „Ihr seid aber groß geworden" war von den Tanten und Onkeln zu hören. Das Essen dauerte ewig, und der Nachtisch zog sich wie Gummi hin. Die Männer prosteten sich danach mit einem Korn und die Frauen mit einem Likör zu. Dieter und ich rutschten schon ungeduldig mit unseren gleich aussehenden kurzen Hosen und den gleichen Pullundern auf den Stühlen herum. Erstaunlich, wie viele Leute doch in so ein kleines Wohnzimmer passten. Endlich kam die Erlösung, und Tante Maria aus Densborn zog bedächtig den Geldbeutel und gab jedem von uns zwei Mark Kirmesgeld. Jetzt waren auch die anderen Onkels und Tanten dran. Jeder von uns zählte stolze zwölf Mark sein eigen, die wir natürlich nicht alle auf einmal ausgeben sollten.

Ab ging es ins Dorf, wo der Rummel bereits in vollem Gange war. Schon von weitem hörten wir die Kirmesmusik aus den alten Lautsprechern schallen. Es war schon ein erhebendes Gefühl, in den Trubel eintauchen zu können. Als wir über die Kyllbrücke gingen, rochen wir bereits den Duft von gebrannten Mandeln und sonstigen Leckereien. Mit den zwölf Mark in der Hosentasche fühlten wir uns wie kleine Könige. Aber dieses Gefühl war nur von begrenzter Dauer. Die Losverkäufer und die Schausteller hatten es nämlich auf unser Kirmesgeld abgesehen.

Die Schiffschaukel war nur was für kleine Mädchen, vom Karussell ganz zu schweigen.

Zeichnung: Kerstin Weinacht, Kerpen

Kleine Halbstarke wie wir gehörten in die Schießbude, wo sie sich mit schlecht justierten Luftgewehren als Helden fühlen konnten. Ich fragte mich nach drei Stunden - na, war es das schon? Ohne Geld sah der Schießbudenbesitzer uns auch nicht mehr so freundlich an. Und so trotteten wir die Schönecker Straße wieder hinauf. Die zwölf Mark waren vermeintlich doch gut angelegt, denn ein kleiner Schraubenzieher aus Plastik, eine Rose und einige Aufkleber hatten wir in der Tasche. Kirmesmontag machte unsere Mutter noch fünf Mark locker mit der Aussage: "Aber sagt Papa nichts". Auch die waren schnell verjubelt - aber es war für uns wieder mal eine tolle und schöne Kirmes gewesen.

Kirmes ade?

Im Laufe der Jahre hat sich dieses Familienfest doch sehr verändert oder es existiert nur noch am Rande. Im Jahreslauf gibt es für die Jugend und auch für die Älteren Feste zuhauf. Der Verdienst würde nicht ausreichen, um all die Feste nur in näherer Umgebung zu besuchen. So wundert es auch nicht, dass die Kirmes an ihrer Bedeutung drastisch verloren hat. In einem Dorf wie Mürlenbach lohnt es sich für die Schausteller nicht mehr, ihre Geschäfte aufzubauen. Wenn überhaupt noch, nur in geringem Maße. Wo früher noch die Kirmes im Dorf in einem großen Festzelt über einen Zeitraum von drei Tagen stattfand, hat es heute ein einzelner Verein schwer, nur an einem Tag im Bürgerhaus die Kirmes auszurichten. Soll die Kirmes im Ort nicht ganz ausfallen, so müssen sich alle Vereine des Dorfes zusammenschließen, um diesen Tag zu gestalten. Aber auch in anderen Dörfern der Eifel dürfte dieser Trend sehr deutlich sein. Als Familienfest, wie in früheren Jahren, dient die Kirmes heute nicht mehr. Das Interesse an familiärem Zusammenhalt, auch innerhalb der Verwandtschaft, ist merklich im Laufe der Zeit gesunken. Auch die Jugendlichen haben bei diesem vielfältigen heutigen Angebot an Veranstaltungen ganz andere Interessen und anderes im Sinn, als ein Familienfest. Auch wenn heute alles schnelllebiger ist, so erinnere ich mich noch gerne an diese KirmesFamilienfeste in meiner Jugendzeit und nicht zuletzt an das Kirmesgeld meiner Eltern, welches von ihrem Munde abgespart war.