Das Herrgottskissen

Maria Himmelfahrt - Tag der Kräuterweihe

Werner Schönhofen, Leutesdorf

Die katholische Kirche feiert alljährlich am 15. August das Fest Mariä Himmelfahrt, in einigen Ländern heute noch ein hoher kirchlicher und sogar staatlicher Feiertag. Dieses Fest war früher in ländlichen Gegenden durch die Kräuterweihe aus dem Kranz der zahlreichen Marienfeste herausgehoben. Wandelte sich auch besonders stark die ursprüngliche bäuerliche Dorfstruktur, so jedoch nicht der Brauch der Kräuterweihe. In den letzten Jahren ist feststellbar, dass sich wieder mehr Menschen auf diesen Brauch besinnen. Oft sind es katholische Frauenvereine, die zum gemeinsamen Krautwischbinden einladen. Die Sträuße werden dann in der Messe gesegnet. Was hat es mit dieser Kräuterweihe auf sich, die seit dem 9./10. Jahrhundert nach Christus als christliche Segnung im deutschsprachigen Raum feststellbar ist? Die Kirche lehrt die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel. Die Legende berichtet, Maria sei im Alter von 72 Jahren verstorben. Die Jünger hatten sie beerdigt; nur „der ungläubige Thomas" fehlte. Er wollte Maria noch einmal sehen. Als die Apostel das Grab Mariens öffneten, fanden sie den Sarg leer vor. Es war jedoch angefüllt mit dem himmlischen Duft zahlreicher blühender Kräuter, 72 an der Zahl - so viele, wie Jesus Jünger ausgesandt hatte und Maria an Lebensjahren zählte. Was wurde nun geweiht? Örtlich verschieden war die Anzahl der Kräuter, sie reichte von neun (angelsächsischer Raum) bis zu 77. Allgemein handelte es sich dabei um Kräuter, denen man eine besondere Heilkraft zusprach. Es waren Immergrün, Eisenkraut, Johanniskraut, Odermennig, Wegwarte, Baldrian, Fenchel, Hanf, Arnika, Wermut, Hopfen, aber auch Getreideähren, Butterblumen, Knoblauch, Zwiebeln und typische Muttergottesblumen wie Königskerze und Frauenschuh darunter. Auch in meiner Jugend war es üblich, an Maria Himmelfahrt einen Krautwisch zur Weihe in die Kirche zu bringen. Wir Kinder stellten ihn zusammen; wir sammelten die Kräuter teilweise in der Feldflur oder holten sie im Garten. Die größte Freude, der größte Stolz dabei war, ein Herrgottskissen zu finden. Dabei handelt es sich um die Kinderstube einer Gallwespenart, eine große und vielfältige Insektengruppe, jedoch keine Wespen. Sicherlich sind die kleinen kugeligen Gebilde unter den Eichenblättern oder die mehr stiftförmigen unter den Buchenblättern bekannt. Aber auch die haarige, kissenförmige Wucherung am Ast von Heckenrosen, von uns Kindern Herrgottskissen genannt, stammt wie die beiden ersteren von einer Gallwespenart. Alle diese Insekten stechen die Leitungsbahnen ihrer Wirtspflanzen an, legen ihre Eier ab, die dann von den entstehenden Wucherungen geschützt werden; so können die Raupen unbehelligt schlüpfen. Das „Herrgottskissen" ist also die Kinderstube einer Gallwespenart. Die geweihten Kräuter wurden zu Hause aufbewahrt; sie sollten gegen Feuersbrunst, Blitzschlag, Unwetter u.a. schützen. Sie wurden an das Kruzifix über der Tür gesteckt wie auch hinter die Futterkrippen, ins Kindbett des Täuflings und bei Unwetter ins Herdfeuer geworfen. Sie sollten Schutz gewähren, denn seit dem Altertum wusste man um die medizinische Wirkung bestimmter Kräuter. Was wundert's, wenn man die Heilwirkung der Kräuter auch auf außermedizinische Bereiche übertrug?

Natürlich musste es beim Sammeln dieser Kräuter auch in ganz besonderer Weise hergehen. Es gab ursprünglich Sprüche und Zeremonien, die hierbei angewandt werden mussten, um die Kraft der Kräuter zu erhalten. Eisen zum Ausgraben der Kräuter durfte nicht verwendet werden, da es die Kraft der Kräuter breche. Es war Schweigen zu wahren. Nur allmählich konnte dieser mythische Naturzauber durch das Christentum überdeckt werden; unterschwellig lebte er sicher noch lange Zeit weiter. Erst unsere moderne, schnelllebige Zeit hat es mit sich gebracht, dass die Kräuterweihe vielerorts nicht mehr ihre ursprüngliche Bedeutung hat.