„So ist sie nun da, die segensreiche Stunde..."

Weißer Sonntag 1944

Franz Josef Ferber, Daun

Auf die Feier unserer ersten heiligen Kommunion - im Kriegsjahr 1944 - wurden wir in unserer Pfarrkirche im Nachbardorf Üß wochenlang gründlich vorbereitet. Das hatten wir der Gewissenhaftigkeit unseres Herrn Pastors Johannes Tempel zu verdanken. Der heiligen Kommunion voraus ging das Bußsakrament, die Beichte. Die erste Beichte fand an einem gewöhnlichen Werktag statt. Vorne in der Kirche, direkt neben dem Eingang zur Sakristei, stand der schwarze Beichtstuhl, der an der Vorderseite mit zwei barocken Engelsköpfen verziert war. Hierin, in der mir etwas unheimlichen dunklen Kammer, saß majestätisch der Herr Pastor. Wir Kinder mussten uns, der Reihe nach, abwechselnd an die rechte und die linke Seite, auf die enge, niedrige Kniebank des Beichtstuhles knien und dem Herrn Pastor unsere Sünden beichten. Das geschah - im Gegensatz zu den späteren Beichten, wo wir durch das kleine Holzgitter dem Pastor unsere Sünden zuflüsterten - bei der ersten heiligen Beichte schriftlich, das heißt, wir reichten dem Herrn Pastor durch das engmaschige Gitterchen einen zusammengerollten Zettel, auf dem wir daheim alle unsere Sünden, die uns einfielen und die wir im „Beichtspiegel" ablesen konnten, aufgeschrieben hatten. Mein Sündenregister war ziemlich lang geworden, es füllte fast die ganze Seite eines Blattes, das ich aus meinem Schulheft herausgerissen hatte. Man sollte nicht glauben, was wir Kinder alles an Gutem unterlassen und an Bösem getan hatten. Zuweilen war ich versucht, etliche Sünden zu unterschlagen. Das war ich letzten Endes doch nicht zu kühn, dafür war uns zuviel mit der Hölle und dem Teufel gedroht worden. Wegen einer unvollständigen Beichte ewige Höllenqualen zu erleiden, nein, das lohnte sich nicht. So eingeschüchtert, beschrieb ich das Heftblatt nahezu voll. Und deswegen brauchte der Herr Pastor einige Zeit,
um alles genau zu lesen. Zwischendurch stellte er mir peinliche Fragen (wobei ich jedesmal erschrak), vor allen Dingen dann, wenn er ein Wort nicht lesen konnte, wenn ihm die eine oder andere Sünde zu stark vorkam oder gar, wenn aus meinen Aufzeichnungen nicht recht zu erkennen war, ob eine Sünde den lässlichen Sünden oder den Todsünden zuzuordnen war. Das alles brauchte seine Zeit. Ich war dann maßlos erleichtert, als der Herr Pastor das „Ego te absolvo in nomine Patris et Filii et Spiritus sancti" sprach, dabei ein Kreuzzeichen über mir schlug und mich mit einem „Gelobt sei Jesus Christus" entließ, worauf ich antwortete: „In Ewigkeit, Amen". Danach verließ ich, mit hochrotem Kopf, schleunigst die Stätte der inneren Reinigung und kniete mich in eine der hinteren Kirchenbänke. Mir kam es vor, als ob mit der Lossprechung alle Sündenschuld wie eine drückende Last plötzlich von mir abgefallen wäre. Komisch, diese belastende Bürde verspürte ich erst und zunehmend, als ich begonnen hatte, den Sündenzettel zu schreiben. Nachher dachte ich, dass meine Sündenschuld doch nicht so groß gewesen sein konnte. Denn die ein paar Gebete, die der Herr Pastor mir als Buße aufgegeben hatte, waren schnell verrichtet.

In diesen Tagen wurden im Pfarrsälchen und in der Kirche die Gebete und die Zeremonien eifrig geübt und das Singen geprobt. Der Höhepunkt der Übungen war auf die eigentliche Kommunionhandlung gerichtet, also auf das Einnehmen der Hostien. Auf den Altarstufen nebeneinanderkniend, hielten uns zwei Messdiener ein schmales, langes, weißes Tuch gestrafft vor. An diesem ging der Herr Pastor mit dem großen goldenen Kelch vorbei und reichte jedem eine ungeweihte Hostie; das war die Generalprobe. Vorher allerdings wurde das Herausstrecken der Zunge geübt. Dies war offenbar nötig; denn mein Freund Oswald, der

Pfarrkirche in Uess um 1940 Foto: Heinrich Pieroth, Mayen

neben mir kniete, tat sich schwer, ihm gelang es auf Anhieb nicht, seine Zunge dem Herrn Pastor - auf dessen Fingerzeig hin - so zu präsentieren, dass er bedenkenlos die Hostie drauflegen konnte. Oswald schien seine Zunge zu rollen, und er schob sie etwas krampfhaft durch seine gepressten Lippen hindurch. Das alles sah ulkig aus, und ich begann, lautschallend zu lachen. Hierüber ärgerte sich der Herr Pastor, und er gab mir prompt eine Ohrfeige; sie war genauso kräftig wie mein unbeherrschtes und schadenfrohes Lachen. In diesen Wochen war ich voller Erwartungen auf den Tag, an dem ich den Leib Christi empfangen sollte. Eine heimliche Sehnsucht erfüllte mich, ein Verlangen nach dem göttlichen Freund. Ich spürte, dass ich bestens gerüstet war, Jesus Christus einen Platz in meinem Herzen einzuräumen. Der Weiße Sonntag war gekommen. In der Kirche, in die wir, die weißumrankte, brennende Kommunionkerze in der Hand haltend, eintraten, ging es betont feierlich zu, ähnlich wie in den Hochämtern an hohen kirchlichen

Festtagen. Wir Kommunionkinder - die Erstkommunikanten - knieten vorne in den ersten Bänken, dahinter die Zweitkommunikanten, also die Kinder, die im vorigen Jahr die erste heilige Kommunion empfangen hatten, dahinter unsere Angehörigen. Der Junge, der direkt neben mir kniete, war automatisch mein Kommunionfreund (früher weithin auch als „Kommunionpate" bezeichnet). Es war Jakob Sicken aus Horperath, der auch später mit Josef Bretz aus dem gleichen Dorf, meinem Freund Peter und mit mir eine Messdienergruppe bildete. Bevor die heilige Messe begann, mussten unsere Taufgelübde erneuert werden. Zu diesem Zweck richtete der Herr Pastor lautvernehmlich viele Fragen an uns, die wir, im Chor, kurz und bündig zu beantworten hatten; zum Beispiel „widersagten wir dem Satan, aller seiner Pracht und allen seinen Werken", und selbstverständlich hatten wir zu bezeugen, dass wir an „Gott, den allmächtigen Vater, Schöpfer des Himmels und der Erde", glaubten. Hernach las ein Erwachsener aus Mosbruch, der am Kopfende in der ersten Sitzbank Platz genommen hatte, die passenden Texte vor, die so begannen:

Peter Schröder (links) und sein Freund Franz Josef als Kommunionkinder in Hörschhausen (Weißer Sonntag 1944)

Foto: Maria Schröder, Hörschhausen

„So ist sie nun da, die segensreiche Stunde, nach der ich verlangt, in der ich zum erstenmal das lebendige Himmelsbrot, den allerheiligsten Leib Christi, meines Erlösers, genießen werde". Ich konnte den großen Augenblick kaum erwarten. Schließlich kam er, ziemlich am Schluss der heiligen Messe. Die Engelchen - das waren weißgekleidete Mädchen, die erst im darauffolgenden Jahr zur ersten heiligen Kommunion gingen - traten einzeln vor jede Bank, in der wir knieten, verbeugten sich und forderten uns, für alle Kirchenbesucher vernehmlich, auf: „Kommt zum Heiland!" Sodann schritten wir andächtig, mit gefalteten Händen, zum Altar und knieten ehrfürchtig vor das wiederum aufgespannte weiße Tuch. Der Herr Pastor legte uns eine - diesmal geweihte - Hostie auf die Zunge. Danach führten uns die Engelchen zu unseren Plätzen zurück. Wir knieten uns hin, verdeckten mit beiden Händen unser Gesicht, bis dass wir die Hostie aufgeweicht herunterschlucken konnten. Den Leib Christi in der Gestalt der heiligen Hostie, so wurden wir belehrt, durfte man nicht zerkauen, noch nicht einmal mit den Zähnen berühren. Und vor dem Kommunizieren durfte man nichts gegessen und nichts getrunken haben, man musste vollkommen nüchtern sein. Ich hielt mich streng an diese Regeln, in der Furcht, Christi Leib sonst unwürdig zu empfangen. Auch zu Hause wurde gefeiert, zwar bescheiden, aber würdig. Der Festgäste waren es wenige: Ein paar Verwandte, darunter der Opa und die Oma aus Nickenich, und die Nachbarsleute, die wir Kinder den „Unkel Mättes" und die „Tant Schritt" nannten. Die Festfreude wurde allerdings dadurch merklich getrübt, dass mein Vater nicht dabei war. Er konnte nicht kommen, denn er stand an der Kriegsfront, in Kurland. In zahlreichen seiner Briefe erwähnte er immer wieder meinen Erstkommunionstag und beklagte seinen Zwangsaufenthalt in der Fremde. Mein Patenonkel und meine Patentante fehlten ebenfalls; der eine war auch im Krieg (und blieb auch dort, genau wie mein Vater), die andere feierte in Niedermendig das Kommunionfest ihres Kindes, meiner Cousine Elisabeth. In einem kleinen Zimmer, einer Art Stube unseres Hauses, war die Festtafel hergerichtet. Zum Mittagessen, dem selbstverständlich das Tischgebet vorausging, gab es Kartoffeln, Gemüse und Fleisch vom selbstgeschlachteten Schwein. Die Vorspeise bestand aus einer fettigen Hühnersuppe von dem Huhn, das wir ebenfalls selbst geschlachtet hatten; sie machte mir nachher arg zu schaffen, auf dem Gang zur Nachmittagsandacht bekam ich Bauchweh. Ich musste mich bei der „Hummes Müll" von meinen Wegbegleitern trennen und mich hinter den Haselsträuchern meiner Not entledigen. Diese Prozedur brachte mich dermaßen in Bedrängnis, dass ich die Andacht versäumen musste. Als Nachtisch bekamen wir Pudding zu essen, nachmittags zum Kaffee Streusel, „Kranz" - auch „Bund" genannt - und, als etwas Besonderes, Bienenstich und Buttercreme. Abends wurde im großen und ganzen das gleiche gekocht wie mittags.

An Getränken standen ein paar Flaschen Wein auf dem Tisch. Soviel ich weiß, hatte der Nickenicher Opa sie besorgt. Kinder durften natürlich keinen Wein trinken, es wurde ihnen allenfalls erlaubt, an den Gläsern der Erwachsenen ein bisschen zu nippen. An diesem Glückstag fiel es mir nicht schwer, mich ganz auf die Hauptsache zu konzentrieren, nämlich auf das Erlebnis, Jesus Christus zu begegnen. Hiervon wurde ich so gut wie durch nichts abgelenkt. Denn wir hatten nicht viel, und wir bekamen wenig. Zu kaufen gab es kaum etwas, und deswegen waren Geldgeschenke nichts wert. Bei den damaligen Verhältnissen war es schon viel, ein neues Gebetbuch und einen Rosenkranz zu bekommen und, nicht zu vergessen, die Kommunionkleidung. Auch in dieser Beziehung konnte ich von Glück sprechen. Frau Geisbüsch, die Geschäftsfrau aus Üß, hatte für mich einen nagelneuen Bleyle-Anzug parat gelegt, den sie uns „unter der Ladentheke" verkaufte; es war kein Geheimnis, dass die Geisbüschs für Kriegsnotleidende etwas übrig hatten. Die schönen, schwarzlackierten Halbschuhe, ebenfalls ganz neu, waren das Geschenk von Opa und Oma aus Nickenich, und die Samt-Schirmmütze bekam ich von meinem Vetter Hens, sie war auch seine Kommunionsmütze gewesen. Zum Glück besaß Kloppecka Tante Maria einen Fotoapparat; sie machte ein Bild von uns beiden, von meinem Freund Peter und von mir. Der Herr Pastor schenkte jedem Kommunionkind ein Bild. Es war ein farbiger Kunstdruck, einen Ausschnitt der Abendmahlrunde darstellend; er bekam einen einfachen Holzrahmen, wurde verglast und im Schlafzimmer neben dem Kommunionbild meines Vaters - Jesus mit allen seinen Jüngern im Abendmahlsaal zeigend - aufgehängt, zum Andenken an den Weißen Sonntag meiner Erstkommunion, vor nahezu 70 Jahren.