Die Weidenbacher Kirmes

Gisela Bender, Deudesfeld

Eines der größten Ereignisse des Jahres war zu meiner Kindheit die Weidenbacher Kirmes. Schon lange vorher freuten wir uns auf diesen Tag. Zeitlich lag dieser Festtag so, dass meistens das letzte Heu in der Woche eingebracht worden war.

Da damals alle von und mit der Landwirtschaft lebten, war dies ein weiterer Grund froh gestimmt zum Kirmesschmaus zu gehen. Am Sonntagmorgen wurden wir Kinder, mein Bruder und ich fein herausgeputzt. Die Schwester meiner Mutter und noch eine weitere Frau, die ebenfalls von Weidenbach nach Deudesfeld verheiratet war, begleiteten uns auch in diesem Jahr.

Mit den beiden Buben von meiner Tante und dem von der Bekannten waren wir fünf quicklebendige Racker im Alter von 5 bis 7 Jahren. Die Anreise war stets schon ein Abenteuer für sich. Vier Kilometer Fußweg und das ausschließlich durch Wald. Aber nicht durch einen x-beliebigen Wald, nein wir mussten durch den berüchtigten „Breckemer Besch". Da, so wurde uns Kindern von den „Wosen" (alten Frauen) erzählt, hauste anno dazumal das „Breckermermähnnchen". Uns wurde erzählt, wenn die Kinder in dieser Zeit nicht folgsam waren, so sei dieses „Bre-ckermermähnnchen" gekommen und habe die bösen Kinder mitgenommen. Obwohl das Männchen seit Generationen nichts mehr von sich hören und sehen ließ, war der Mythos dieser Erzählung gerade auf diesem Weg in unseren Kinderköpfen präsent. Keines von uns wagte es einen großen Abstand zu den Erwachsenen zu halten. Wie froh waren wir, als wir endlich aus diesem Wald herauskamen, und Weidenbach vor uns lag. Auf der Haustüre stehend erwartete Großmutter uns. Mir blieb es immer ein Rätsel, woher sie stets den Zeitpunkt unserer Ankunft so genau wissen konnte. Einen Ausblick auf unseren Weg gab es vom Haus aus nicht. Erst wurden die Erwachsenen begrüßt, dann waren wir Enkelkinder dran. Ausgiebig begutachtete Großmutter uns, ihr alljährlicher Kommentar lautete immer gleich „Seid ihr groß geworden!"

Nacheinander ging es dann in die Stube. An dem langen Tisch, der schon für das Kirmesessen gedeckt war, saßen schon wieder die ewig zuerst gekommenen.

Die Begrüßung zwischen Geschwistern, deren Ehepartnern, Kindern und anderen Verwandten und Bekannten war ein besonderes Erlebnis. So selten, wie man sich außer an diesem Kirmestag sah, mag es wohl nicht verwundern, dass man sich allerhand zu erzählen hatte. In der Zeit aus der diese Erzählung stammt, war der landwirtschaftliche Betrieb, dem Großmutter nur noch symbolisch vorstand, sehr beträchtlich.

Von den sechs Geschwistern meiner Mutter hatten drei schon nicht mehr standesgemäß geheiratet, also keinen Bauern. Diesem Umstand war es zu verdanken, dass nicht nur bäuerliche Themenbereiche als Gesprächsstoff behandelt wurden. Doch sie dominierten alle Jahre wieder. Nachdem alle zu erwartenden Gäste sich begrüßt hatten, wurde zum Tischgebet aufgestanden. Diesem Zeremoniell übernahm in jedem Jahr Fritz vom Eigelbüsch, ein Einödhof bei Birresborn. Dieser Fritz war, so lange ich ihn kannte, immer der Gleiche: klein, wieselflink und in seinen Jahren schwer zu schätzen. Eigentlich kam er mir immer schon alt vor, deshalb wunderte ich mich jedes Jahr, dass er wieder da war.

Jedenfalls verlangte Fritz unserer Geduld und unserer Vorfreude auf das zu erwartende Kirmesessen viel ab. Sein Tischgebet schien sich nicht in Worten zu erschöpfen, immer wieder fiel ihm eine neue Fürbitte ein. Er ließ sich von und durch nichts aus seinem Rhythmus bringen. Über seinem Kopfe an der Wand hing ein Bildnis des heiligen Florian, dem Schutzpatron vor Feuerbrunst. Auf diesem Bild schüttete der heilige Florian einen riesigen Eimer mit Wasser, von oben aus den Wolken auf ein brennendes Haus. Jedes Mal, wenn Fritz mit dem Beten nicht fertig werden wollte, stellte ich mir bildlich vor, die Wassermassen aus dem Eimer des hl. Florian ergössen sich über Fritz Schultern. Mit Sicherheit würde er dann zum Schluss finden.

Irgendwann war es dann doch überstanden, und es wurde aufgetragen. Heute vermag man dies alles nicht mehr nachzuvollziehen. An der langen Tafel gab es keinen, der keinen Appetit gehabt hätte oder einen, der gerade auf Diät gewesen wäre. Alle hatten gleich guten Appetit. Eigens für die Kirmes war geschlachtet worden und eine Frau engagiert, die das Kirmesessen kochte.

Nach dem Essen war für uns Kinder die Zeit, auf den Kirmesplatz zu gehen. Von jedem Kirmesgast, Onkel, Tante oder den anderen Verwandten hatte man einen Groschen bekommen. Diese mussten nun ausgegeben werden. Die Erwachsenen konnten sich derweil in Ruhe über aktuelle Ereignisse unterhalten. Diese Gespräche gestalteten sich nicht selten zu heftigen Pro und Contras. Manchmal arteten sie in richtige Diskussionen aus, über privaten oder genossenschaftlichen Handel, über Schweinepreise und landwirtschaftliche Zukunftsaussichten.

Angefeuert wurden diese Gespräche von „Märschen Tunn", einem „Hahndelsfopper" (Viehhändler) aus Niederstadtfeld. Er gehörte nicht zur Verwandtschaft, war aber in welcher Beziehung auch immer, in jedem Jahr hier anzutreffen. Jedenfalls trug er wesentlich dazu bei, dass die Unterhaltung nie ins Stocken kam. Nicht immer kam man in einem sehr heiklen Thema zu einem gemeinsamen Konsens. Dann wurde, das war sicher, im nächsten Jahr wieder daran angeknüpft. Beim traditionellen Kirmesweck kam dann stets die erste Aufbruchstimmung durch. Ebenso herzlich wie man sich am Vormittag begrüßt hatte, wurde sich nun verabschiedet. Man versprach hier und da vorbei zu kommen, woraus dann doch nie etwas wurde. Nur hierhin würde man zurückkommen, dies war und blieb, solange Großmutter lebte, ein ungeschriebenes Gesetz. So ging ein schöner Tag zu Ende, doch die Erinnerung daran währt ein ganzes Leben lang.