„Du Schönste aller Schönen"

Wie Tante Mariechen doch noch zu ihrer Hillich kam

Alois Krämer, Bodenbach

Schon lange tuschelte man im Dorf über Tante Mariechen. Das Tantchen, sonst ein Ausbund an Ehrbarkeit, Fleiß und Frömmigkeit, zeigte neuerdings Charakterzüge, die man von ihm so nicht kannte. So, wie auch heute, am Sonntag, wieder. Pünktlich erschien sie zum Hochamt, nahm ihren Platz in der schmalen Bank ein, faltete die Hände, betete, sang und folgte andächtig dem Ritus - aber sie ging nicht zur Kommunionbank, sondern verließ, kaum schritt der Priester mit dem Kelch hinab zu seinen Gläubigen, fast fluchtartig den Kirchenraum. Und das ging schon über Wochen so. Und danach wurde Mariechen den ganzen Sonntag über nicht mehr gesehen. Seit jeher lebte sie auf dem elterlichen Hof, mittlerweile nichts anderes als ein früh ergrautes Faktotum mit viel Arbeit und wenig Freizeit, und bislang eigentlich recht zufrieden mit seinem Dasein. Mittlerweile war sie „in die Jahre gekommen", wie man so sagt, und niemand hatte viel über Mariechen nachgedacht. Kurz und gut, man wunderte sich. Ihre Freundinnen tuschelten im Geheimen, ließen aber vor ihr nichts laut werden.

Es vergingen noch einige Wochen, bis Fritzens Bärb es eines Tages beim Kaufmann nicht mehr aushielt: „Manche Leut' brauchten gar nicht mehr zur Kirche zu gehen", vermeldete sie im Kreise der Hausfrauen, die mit ihren Einkaufstaschen brav warteten, bis sie an der Reihe waren und von Trude, der Ladenbesitzerin bedient wurden, „weil manche Leut' schon rausgehen, wenn die Kirch' erst halb aus ist." Mariechen, die stundenweise bei Bärb aushalf, stand hinter der Schiebetür vom Laden zur Küche, und hörte jedes Wort, wusste, wer gemeint war, und errötete. „So geht es nicht weiter", dachte sie bei sich, „ich muss doch mal was sagen."

Abends, als die Stallarbeit getan war, saßen alle beim Abendbrot, Karl, ihr Bruder, seine Frau Gertrud, die beiden erwachsenen Söhne und sie, das Tantchen halt. „Was ich dich immer schon mal fragen wollte", begann Gertrud, „wohin gehst du eigentlich sonntags immer? Man sieht dich überhaupt nicht, und zum Essen bist du auch nicht da! Ich dachte immer, du bist bei deiner Freundin Klara, aber die weiß von nichts." Mariechen räusperte sich, brachte aber keinen Ton heraus. Karl stand auf und ging zum Büffet, nahm aus der Schublade einen Umschlag und reichte ihn ihr. „Das kam heute mit der Post für dich", meinte er gleichmütig. Sie nahm den Brief und entschwand wie der Blitz auf ihrem Zimmer. Nein, wie war das peinlich! Hastig riss sie den Umschlag auf und begann zu lesen.

„Liebe Marie, der letzte Sonntag mit dir war wieder so schön, dass ich dir das einfach einmal schreiben muss. Ich freue mich auf jedes Wochenende, das ich mit dir verbringen darf. Wie wäre es, wenn du deinen Leuten einmal etwas von mir erzählst. Dann müssen wir uns nicht mehr verstecken, sondern können offen miteinander verkehren." Bei dem letzten Wort wurde Marie blutrot und verlegen. Aber er hatte ja Recht. Ihr lieber Franz, sie war ihm wirklich von Herzen zugetan. Trotzdem war ihr Herz schwer. Sie hatte sich das alles etwas einfacher vorgestellt. Ihrem Bruder konnte sie nicht so einfach ins Gesicht sagen, so und so ist es, ich habe da jemanden kennen gelernt, und es ist vielleicht etwas Ernstes. Und die Familie hätte wissen wollen, wie sie, die doch früher nie aus dem Haus kam, eine Bekanntschaft hätte schließen können. Sie seufzte und legte den Brief beiseite, ohne den Rest gelesen zu haben. An diesem Abend ging sie nicht mehr hinunter, sondern blieb für den Rest des Abends auf ihrer Stube. Am anderen Morgen fiel ihr der Brief wieder ein und sie las die letzten Zeilen: „Wenn du deinen Leuten etwas über mich sagen wirst, kannst du gleich auch noch sagen, dass ich dich heiraten möchte."

Wie vom Donner gerührt stand sie da, der Brief fiel ihr aus der Hand. Sie hatte zwar schon einmal ganz im Stillen darüber nachgedacht, wie es wohl sein könnte, verheiratet zu sein. Aber was sie hier im Haus am Beispiel der Ehe ihres Bruders sah, war etwas ganz anderes als das, was sie sich unter einer glücklichen Ehe vorstellte. Nur Schufterei ums tägliche Brot, nur Kampf ums Dasein, kaum ein freundliches Wort! Da konnte sie schon darauf verzichten! Sie beschloss, nichts mehr zu sagen, und auch nicht zurückzuschreiben.

Vielleicht war das alles nur eine fixe Idee von ihr, einmal etwas Neues anfangen zu wollen. Und doch, die Sonntage, die sie mit ihm verbracht hatte, waren so schön gewesen. Nicht umsonst war sie früher aus der Messe davongelaufen, unterhalb der Kirche hatte er mit seinem kleinen Auto gestanden, niemand sollte ihn sehen, schnell waren sie davongefahren und hatten sich einen schönen Sonntag gemacht an der Mosel oder am Rhein. Und zurück hatte er sie gebracht, aber nur bis zum Ortsschild, niemand sollte ihn sehen, sie schämte sich so und fürchtete den Spott der Dorfbewohner. Sich in ihrem Alter zu verlieben, wie verrückt war das denn?

Und dann kam der Kirmessonntag. Nach dem Hochamt trudelten die ersten Gäste aus dem Nachbarort ein. Vetter Konrad mit seiner Frau und seinen beiden Kindern. Ein wenig später kam der lange Adam mit seiner kleinen, aber wohlbeleibten Agnes mit dem Goggomobil aus der Mayener Gegend, aus dem Kölner Raum kamen Johannes und Käthe mit ihren Kindern. Ein alleinstehender Onkel traf als letzter ein. Die Tanten, beide mit hochroten Wangen, bedienten die vielen Gäste. In Stube und Wohnzimmer saß man an weiß gedeckten Tischen und ließ es sich wohl ergehen. Der Braten mundete, die Kartoffeln waren genau richtig, das Gemüse frisch aus dem Garten. Kurz, die fleißigen Hausfrauen konnten stolz auf sich sein. Alles ging gut, bis auf einmal jemand in der Tür stand, den keiner kannte.

„Ich habe geklopft", kam es fast schüchtern von den Lippen eines eher schmächtigen Mannes, der die Sechzig schon länger hinter sich gebracht hatte und mit dem Hut in der Hand etwas verloren dastand. Marie kam mit einer vollen Kartoffelschüssel in der Hand aus der Küche. Wie vom Donner gerührt blieb sie stehen, im letzten Moment konnte sie die Schüssel noch festhalten, sonst wäre sie ihr aus der Hand geglitten. „Franz, ... du", hauchte sie, drehte sich um und verschwand samt Kartoffelschüssel wieder in der Küche. Karl fasste sich als erster, stand auf und begrüßte den Fremden, der ihn mit einer bittenden Kopfbewegung auf den Flur hinaus bat. Ein paar Worte unter Männern, später kamen beide wieder in die Stube zurück. Platz wurde gemacht, Teller und Besteck kamen wie von Geisterhand herbei, und zu Braten und Wein wurde Franz kurzerhand in ein politisches Gespräch über den Mauerbau in Berlin verwickelt, von diesem Thema ging es über zu Landwirtschaft und Viehzucht, davon verstand man viel. Von Franzens Handwerk, er war Schneider gewesen, wohl weniger, aber die Frauen fragten ihn gleich über Stoffe und ihre Beschaffenheit aus. Und Mariechen? Mariechen saß im Stall auf ihrem Melkschemel und weinte sich die Augen aus dem Kopf. Sie wusste nicht aus noch ein, ihr drehte sich alles im Kopf, und sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie machen sollte.

Franz hatte gegessen, ein Glas Wein getrunken, nun schaute er sich suchend um. „Wo ist Marie?", wollte er wissen. Gertrud wandte sich ihm zu, schaute ihm aufmerksam ins Gesicht, angespannt, neugierig, mit tausend Fragen auf den Lippen. Aber sie fragte nichts, sondern wies auf den Hof hinaus. „Draußen wohl", meinte sie. Franz ging auf die Suche. Auf dem Hof war sie nicht zu sehen, er schaute in die Remise, in die Scheune lugte er und ging dann zum Stall hinüber. Vorsichtig öffnete er die Tür und sah sie dort sitzen, die weiße Schürze vor die Augen gepresst. „Marie", flehte er, „ Mariechen, du bist mir doch nicht böse, dass ich gekommen bin? Ich meine, einmal muss es doch sein, oder willst du mich nicht?" Sie weinte heftiger und schluchzte: „Wie soll das werden, hier werde ich doch auch gebraucht, der Bruder lässt mich bestimmt nicht weg. Und von dir weiß ich so wenig." Da nahm Franz sie einfach in den Arm und wiegte sie wie ein kleines Kind. „Sei doch nicht so ängstlich, es wird schon alles werden. Du wirst es bestimmt gut bei mir haben, aber", er lachte, „Kühe habe ich nicht, nur eine Katze."

Er nahm sie bei der Hand und zog die Widerstrebende durch den Hausflur in die Stube. „Wir haben uns verlobt", verkündete er der staunenden Gesellschaft, „Marie und ich werden heiraten." Da ging ein Fragen und Antworten an, das bis in den Nachmittag hinein währte. Mariechen hatte nun ihre schwere Last von der Seele und lächelte so glücklich und stolz, dass ihr herbes Gesicht fast schön wirkte. Die Jugend am Tisch feixte: „Mariechen, wir machen dir eine Hillich, das hat die Welt noch nicht gesehen!" -„Um Gottes Willen, nein!" Marie war ganz entsetzt. „Aber da wirst du nicht drum herumkommen", grinste ihr Bruder, „wo du doch einen Fremden heiratest. Da wollen die Burschen bestimmt noch etwas absahnen." Nun hatte das Dorf richtig etwas zum Schwätzen. Ihre Freundinnen wollten es nun ganz genau wissen: Wo sie ihren Franz nun kennen gelernt habe, wo sie wohnen würden, und ob sie eigentlich nicht zu alt für gewisse Dinge sei. Das ging so weit, dass ihr manche der braven Ehefrauen einen regelrechten Aufklärungsunterricht verpassen wollten. Sie aber schüttelte jedes Mal heftig den Kopf und wollte von allen guten Ratschlägen nichts wissen. Im Gegenteil richtete sie ihr Augenmerk eher auf ihre Aussteuer, die sie noch ergänzen wollte. Auch kümmerte sie sich um ihre Garderobe, die doch sehr erneuerungsbedürftig war. Mit ihrem Bruder hatte sie einige, sehr ernste Gespräche, denn immerhin hatte sie ja viele Jahre fast nur für Kost und Logis gearbeitet. Da musste er schon zugeben, dass ihr eine ordentliche Mitgift zustand.

Der Abend vor der standesamtlichen Vermählung war gekommen. Und es trat ein, was sie zuerst mit bangem Herzen gefürchtet, nun aber doch ein bisschen ersehnt hatte. Alle Junggesellen des Ortes waren gekommen; ein zweirädriger Karren wurde umgedreht und das Karrenrad in schnelle Umdrehungen versetzt. Mit der Schneide von Sensen auf den eisernen Belägen der Räder wurden metallische, ohrenbetäubende Geräusche erzeugt, die einem durch Mark und Bein gingen. Dazu sangen die Burschen das bei einer Hillich übliche Lied: „Du Schönste aller Schönen .". Bei der dritten Strophe wurden die Stimmen lauter, damit man auch genau hörte, was sie sangen: „Da bekommst du keine Kinder und hast keine Not. Niemand schreit zum Vater, ihr habt immer Brot." Andere Burschen hockten auf der Erde und hämmerten dröhnend auf Sägeblätter ein, dass man sein eigenes Wort kaum noch verstand. Franz, der natürlich auch gekommen war, spendierte reichlichen Obolus, mit dem die Burschen später in die Gastwirtschaft zogen, ihn in geistige Getränke umzusetzen. Nicht nur die Nachbarn, das ganze Dorf hatte seine helle Freude an dieser Hillich. Mariechen aber hing glücklich am Arm ihres Zukünftigen, sie malte sich ihr weiteres Leben in hellen, freundlichen Farben aus. Keinen Kuhstall, keine Feldarbeit mehr, nur noch ein bisschen Haushaltsarbeit in einer netten Wohnung, ein neuer Wohnort, neue Menschen. Es würde so schön werden! Nur ihre Schwägerin haderte mit ihr, fiel jetzt doch eine ganze Arbeitskraft fort. Dafür musste Ersatz geschaffen werden, das wollte sie ihrem Karl schon noch beibringen.

Mariechen aber verriet niemandem, nicht einmal ihrer aller-allerbesten Freundin, wie sie einst an ihren Franz gekommen war.