Der Bach meiner Kindheit

Dr. Josef Pedain, Gerolstein

Mein Großvater war ein Müller. Er besaß eine Wassermühle, die schon viele 100 Jahre alt war. Mein Großvater war stolz auf seine Mühle. Alles war aus Holz gebaut, es gab keinen Diesel- und keinen Elektromotor, nur die Wasserkraft trieb die Mühle. Manchmal musste etwas repariert oder erneuert werden, dann stand die alte Mühle still. Aber meistens rauschte und klapperte sie, und wenn ich als Kind bei den Großeltern übernachten durfte, klangen diese Geräusche wie ein Lied, das mich in den Schlaf begleitete. Sehr wirtschaftlich arbeitete die Mühle wohl nicht, denn die Großeltern hatten auch noch Vieh und Äcker, wovon sie lebten.

Die Mühle stand in einem Bachtal. Vom Hauptbach zweigte, bachaufwärts durch ein Wehr reguliert, der Mühlbach ab. Den Bach überquerte der Weg zum Dorf über eine Holzbrücke. Von dort kamen die Bauern mit Fuhrwerken, beladen mit Säcken voll Roggen und Gerste und fuhren das Mahlgut wieder weg. Die Brücke und der Bach waren der Lieblingsspielplatz für mich und meinen jüngeren Bruder. Als Ende 1944 unsere Schule in ein Lazarett verwandelt wurde, hatten wir viel freie Zeit und wohnten bei den Großeltern. Wir saßen auf der Brücke, ließen die Beine baumeln und schnitzten Schiffchen und Weidenpfeifen. Im Winter und im zeitigen Frühjahr hatte der Bach Hochwasser und zeigte sich wild und unbändig. Aber später wurde er glasklar, man konnte jeden Kiesel erkennen. Er hatte tiefe und flache Stellen und unter den Wurzelstöcken der großen Bäume hatten sich große Hohlräume gebildet. In diesen tiefen, dunklen Ausbuchtungen versteckten sich die Fische - und unser Bach hatte viele Fische. Es waren Bachforellen, die wir von der Brücke beobachten konnten wie sie mit dem Kopf gegen die Strömung im Wasser standen. Wir konnten sehen, dass sie immer die gleichen Stellen bevorzugten und gaben einigen besonders auffälligen Fischen sogar Namen.

Der Großvater sah es nicht gern, wenn wir versuchten Fische zu fangen, aber manchmal konnten wir es nicht lassen - und es war gar nicht so schwer. Unter der Brücke gab es Spalten und Risse im Schiefergestein und auch da wohnten einige Fische. Man konnte vorsichtig mit der Hand hineinfassen, spürte den Fisch und konnte ihn streicheln - oder auch zufassen. So fingen wir einige kleinere Forellen, konnten sie bewundern und ließen sie dann wieder schwimmen; sie waren ja unsere Freunde. Erst als wir einige große Krebse entdeckten, verloren wir jede Lust mit den Händen in die Höhlungen zu fassen. Während um uns herum eine Welt zusammenbrach, hatten wir Kinder an unserem Bach eine herrliche Zeit, die wir nie vergessen werden. Aber diese schönen Tage sollten plötzlich zu Ende gehen. Die Russen hatten Anfang Mai 1945 unser Dorf eingenommen und danach kamen immer wieder russische Truppen mit Panzern und Kraftwagen die Dorfstraße entlang. Wertvolle Dinge besaßen die Einwohner ohnehin nicht mehr, aber die Soldaten kamen doch häufig in die Bauernhäuser. Unsere jungen Tanten hatten sich auf dem Heuboden versteckt und unsere Mutter trug ständig zu ihrem Schutz ein Baby auf dem Arm. Doch dann quartierte sich eine Abteilung russischer Soldaten im Ort ein und blieb dort bis zum Herbst 1945. Sie nannten sich „Kommandantur" und waren wohl russische Militärpolizisten. Für das Dorf war das ein großer Vorteil, denn Übergriffe und Plünderungen hörten plötzlich auf.

Meine hübschen Tanten konnten wieder ans Tageslicht kommen, aber für uns beiden Jungen war es eine Katastrophe. Einer der neuen Russen, ein sehr junger Soldat, machte jeden Tag einen Kontrollgang entlang unserem Bach und hatte natürlich seine Maschinenpistole umgehängt. Dann stand er auf unserer Brücke und ballerte ins Wasser. Wenn er wieder weg war, wagten wir uns an den Bach: Tote Fische waren angespült manchmal auch zerfetzte Fischkörper. Wir sammelten die geliebten Forellen ein, saßen dann auf der Brücke und weinten. Am Ende des Sommers waren keine großen Fische mehr zu sehen. Das war schlimm für uns Kinder, aber es sollte noch viel schlimmer kommen. Als die Russen wegzogen, kamen die Tschechen. Unser Dorf, mein Geburtsort, liegt etwa 800 km entfernt von der Vulkaneifel in Nord-Mähren am Fuße des Altvatergebirges. Noch nie hatte in diesem Ort ein Tscheche gewohnt. Aber jetzt kamen sie in jedes Haus und in jeden Hof und nannten sich die neuen Besitzer. Die deutschen Bewohner wurden in ein Lager gebracht und von dort in Viehwaggons nach Deutschland transportiert.

Am 1. Mai 1946 kamen wir - meine Mutter mit ihren 5 Kindern - in einem Dorf in Hessen an. Die übrigen Verwandten waren in andere Orte gebracht worden, mein Vater kam erst 3 Jahre später wieder zu uns. Wir erhielten bei einem Bauern einen einzigen Wohnraum. Das kleine Dorf mit etwa 1000 Einwohnern hatte ungefähr die gleiche Anzahl Heimatvertriebene, Ausgebombte aus Frankfurt und Gießen und Flüchtlinge unterzubringen. Mein Bruder und ich - wir waren die beiden ältesten unserer Geschwister - mussten um Brot, Milch und Kartoffeln betteln und Ähren und Bucheckern lesen. Die Einheimischen halfen den Vertriebenen, wer wollte bekam sogar ein Stück Land. Dafür wurde ein großer Acker in kleine Stücke von etwa 4x10 Meter aufgeteilt. Meine Mutter nahm sofort ein solches „Pflanzstück", aber eigentlich hatte sie keine Zeit es zu bearbeiten und übergab mir die ganze Verantwortung.

Woher sollte ich nur wissen, wie man einen Garten anlegt? Aber ich bekam Hilfe und dann war es doch nicht so schwer. Mein Grundstücknachbar, ein alter Herr aus Frankfurt hatte Beziehungen. Von ihm bekam ich Saaterbsen und Radieschensamen, Krautpflänz-chen und Tomatenpflanzen. Ich half ihm dafür Gießwasser auf seine Beete zu schleppen, und Gartengeräte lieh mir unser Bauer. Das schwierigste Problem für mich war der trockene Sommer 1946. Das hessische Dorf litt stark unter Wasserknappheit; nur zwei Stunden morgens und abends kam Wasser aus den Leitungen und es war untersagt Gärten zu gießen. Die Pflanzstücke lagen auch vom letzten Haus des Dorfes mehr als 1000 Schritte entfernt.

Das Dorf hatte zwar auch einen Bach und der floss sogar an dem Pflanzstück vorbei, aber was war das für ein Bach: Ein nasser Graben völlig zugewachsen - und natürlich ohne ein einziges Fischlein. Aber daran dachte nur ich, die anderen Gärtner wussten sich zu helfen: Dort wo der Bach die Pflanzstücke berührte, gruben sie das Bachbett aus, schütteten einen Damm auf, bauten eine Treppe und konnten dann mit Gießkannen und Eimern das angesammelte Wasser schöpfen. Immer nach der Schule und in den Ferien schon morgens lief ich zu meinem Pflanzstück und war froh, wenn alles schön grünte. Meine Mutter war aber nicht nur tüchtig und klug, sie war auch noch sehr ehrgeizig. Sie meldete mich - ich war gerade 11 geworden - in dem Gymnasium des Nachbarstädtchens, das fünf Kilometer entfernt lag, an. Ich bestand die Aufnahmeprüfung und nach den großen Ferien musste ich morgens schon vor 7 Uhr losgehen, um 8 Uhr in der Schule zu sein. Daran gewöhnte ich mich schnell, aber mein kleiner Garten verkam leider. Der Spätsommer und der Herbst waren immer noch sehr heiß und trocken und wenn ich nachmittags aus der Schule kam, war das Wasser aus dem Bachtümpel alles verbraucht. Hacken ist genau so gut wie Gießen. So meinte mein Grundstücknachbar, aber meine stolzen Tomatenpflanzen brauchten wirklich dringend Wasser und ließen die Zweige hängen. Für mich war das eine Lehre, die ich nie vergessen werde: Ohne Wasser gibt es kein Leben. Doch schließlich fand ich einen Ausweg: Ich stand morgens noch früher auf, ging zu meinem Gärtchen, holte Wasser aus dem Tümpel goss die Tomaten und stellte meinem alten Freund, der leicht behindert war, auch noch zwei volle Gießkannen auf seine Beete. Und erst dann machte ich mich auf den Schulweg. Jedenfalls, als ich meine ersten roten Tomaten meiner Mutter brachte, strahlte sie und machte mich glücklich. Sie sagte: „ Das sind die besten Tomaten meines Lebens."

Sehnsucht im Herzen

An unseren Bach im fernen Mähren hatte ich viele Jahre nicht mehr gedacht. Die Großeltern waren längst gestorben, der Großvater glaubte bis zuletzt an eine Rückkehr in die Heimat. Er war überzeugt, dass er dort gebraucht wird; kein anderer könne die Mühle in Betrieb setzen.

Ich stand schon lange im Beruf und hatte auch die Eifel mit ihren herrlichen klaren Bächen kennengelernt. So entschloss ich mich zu einem Besuch in der alten Heimat. Diese Fahrt war eine bittere Enttäuschung: Die meisten Bauernhäuser in meinem Heimatdorf waren zerfallen und unbewohnt. Großvaters uralte Mühle war nicht mehr da. Die neuen Besitzer hatten sie abgefackelt, das Mauerwerk gesprengt und damit Hohlwege zugeschüttet. Das ganze Bauernland dieses alten deutschen Dorfes war jetzt eine einzige Kolchose. Auch die Brücke war verschwunden, der Bach hatte nur sehr wenig Wasser und war mit Pestwurz völlig zugewachsen. Keinen einzigen Fisch konnte ich sehen.

Was mir nach der langen Zeit bleibt ist nur die Erinnerung. Ich schließe die Augen und sehe dann spritzendes, glasklares Wasser, das über helle und dunkle Steine strömt und blitzende schnelle Forellen. Und im Herzen spüre ich die tiefe Sehnsucht nach der verlorenen Heimat.

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