„Oma, geh'n wir noch zur Anna?"

Katharina Zapp, Oberstadtfeld

Samstagvormittag, 11:30 Uhr. Dank des langen Einkaufzettels, den Mama mir in die Hand gedrückt hatte, stehe ich im Supermarkt an einer ewig langen Schlange und warte darauf, dass endlich eine zweite Kassiererin aufgerufen wird. Während ich mir nun die Beine in den Bauch stehe und das penetrante Piepen des Scanners mich so einige Nerven kostet, denke ich an die Einkaufserlebnisse von früher und muss plötzlich lächeln. Der Samstag ist nämlich jetzt, schon seit ich denken kann, Mamas "legendärer Putztag" und absolut nichts und niemand darf sie dabei stören, weswegen mein Bruder und ich diesen Nachmittag früher als Kinder gerne bei Oma Gretchen (im Dorf bekannt als "Kassen-Schrietchen") in Salm verbrachten. Kaum hatte Papa uns mittags dort abgeliefert, roch man vom Hof aus bereits den typischen "Oma-Gretchen-Geruch" aus der Küche, womit wir damals eine absolute Delikatesse verbanden.

Dort gab es nämlich traditionell Kartoffeln mit Rahmspinat und Hähnchenschenkel. Letztere schwammen bei Oma immer regelrecht im Fett. Doch da man als kleines Mädchen auf jegliches Kalorienzählen verzichtet und nach Lust und Laune genüsslich schlemmt, war das gerade der Grund, warum wir dieses Essen so liebten. Das restliche Fett wurde dann zum Schluss noch über den Kartoffeln verteilt und die knusprige, leicht verbrannte Haut, („dat Brutschelige", wie mein Bruder und ich es nannten) hoben wir für den Schluss auf, da es unserer Meinung nach das Köstlichste am ganzen Essen war.

Doch das eigentliche Highlight des Tages stand erst nach dem Essen an, denn ein ganz bestimmter Ausflug wurde schon voll Vorfreude von uns erwartet. Ich weiß wirklich nicht, wie viele etliche Male im Laufe der Jahre die Frage fiel: „Oma, geh'n wir noch zur Anna?" Für alle Nicht-Salmer: Anna ist eine kleine zierliche Frau, damals um die 60, und das Besondere an ihr war, dass sie einfach jederzeit ein unheimlich freundliches Lächeln im Gesicht hatte. Über der Kleidung trug sie eine blitzblanke weiße Kittelschürze, die stets fein gestärkt war und meine Erinnerungen an sie sind so unvergessen, da sie einen kleinen Tante-Emma-Laden gemeinsam mit ihrem Mann Mätti führte, der ihr tatkräftig zur Seite stand. Anders als heute gehörte ihr Geschäft keiner großen Supermarkt-Kette an, sondern es war schlicht und ergreifend allen nur unter dem Namen "Bäi Bielen Anna" bekannt. So hörte man in Salm nicht selten Formulierungen, wie: „Esch moooß noch bäi Bielen Anna", „dat honn esch bäi Bielen Anna jekoooft" oder „die Näiichkeeet honn se bäi Bielen Anna azeeelt". Ihr kleiner Laden war an der Hauptstraße gelegen und bildete durch seine zentrale Lage den Mittelpunkt des Dorfes. Sowohl vom Ober- als auch vom Unterdorf kamen die Bewohner Salms im Laufe der Woche mit ihren Körben und Taschen vorbei, um diese zu füllen. Oma Gretchens Einkäufe wurden immer in einem haselnussbraunen Beutel transportiert, dessen kleine Risse im Leder verrieten, was für eine lange Zeit er nun schon ihr treuer Begleiter war.

Nach dem Mittagessen machten mein Bruder, Oma Gretchen, der Beutel und ich uns somit jeden Samstag auf den Weg zum Tante-Emma-Laden. Ein paar wenige Stufen befanden sich vor dem Eingang und schon stand man mittendrin "Bäi Bielen Anna". Der helle Ton des kleinen Türglöckchens kündigte uns jedes Mal an und Anna oder Mätti erschien aus einem Nebenzimmer, da das Geschäft Teil ihres Wohnhauses war. Neben Obst, Gemüse, Kaffee, Zucker und Mehl gab es im hinteren Gang des Ladens auch eine kleine Ecke, in der der Duft von frischer Wurst und Käse in der Luft lag, denn von eingeschweißten Produkten fehlte damals jede Spur. Hier bei Anna gab es lediglich frisch Aufgeschnittenes und da mein Bruder Christian und ich die Fleischwurst besonders gern mochten, nahm Anna diese bereits hervor, wenn sie uns sah. „Wie viel brouchs de dahn hok, Schriet?", fragte sie meine Oma. Und da diese es immer gut mit ihren Enkeln meinte, antwortete sie stets mit einem großzügigen Tonfall: „Zwo jooder decker Schäiwen fier de Kanner." Allerdings war in Annas Lebensmittelsortiment nicht nur Altbewährtes zu finden, sondern durchaus auch Neuheiten. So erinnere ich mich noch ganz genau an ein besonderes Erlebnis. Ich hatte nämlich bei Anna einen Schokoriegel entdeckt, den ich bisher nur aus der Werbung kannte. Selbstverständlich wusste ich, dass Oma nicht nein sagen konnte und somit machte ich sie sofort darauf aufmerksam und meinte: „Oma, den gibt es jetzt ganz neu. Können wir mal einen davon kaufen?" Wer Kassen-Schriet aus Salm kennt, wird wissen, dass meine Oma keine Frau der großen Worte, sondern eher der zackigen und vor allem hemmungslosen Taten war und somit hatte sie bereits sofort das Papier des Schokoriegels aufgerissen und entgegnete mir mit den Worten: „Hey, dahn bäiß ehs rann! Schmescht et?" Nachdem ich mit vollem Mund nickend bestätigte, dass die Süßigkeitenindustrie mal wieder einen Volltreffer gelandet hatte, meinte Oma: „Dahn keefen mir aal, die Anna hott." Natürlich strahlte ich zunächst wie ein kleiner Putzeimer und schon machten wir uns auf den Weg zur Theke vorne am Eingang, auf der eine alte Kasse stand. Neben unseren anderen Lebensmitteln lagen nun 9 neue Schokoriegel und ein angebissener. Letzterer bereitete mir plötzlich ein schlechtes Gewissen. Ich weiß nämlich noch ganz genau, dass mir Omas resolutes Verhalten in dem Moment furchtbar peinlich war, denn ich hatte Angst, dass Anna schimpfen würde, weil ich die Schokolade schon probiert hatte. Schließlich hatte ich mir Mamas Verbot gut eingeprägt, wenn wir in den großen Dauner Supermärkten waren. „Katharina, NICHTS anfassen!", predigte sie mir nämlich jedes Mal aufs Neue, bevor wir den Laden betraten. Und von Oma hatte ich eben sogar den Auftrag bekommen, reinzubeißen?! Ich war vollkommen irritiert und befürchtete, etwas absolut Illegales gemacht zu haben. Jedoch wurde mir schnell klar, was eben das Besondere an Annas kleinem Laden war und freundlich sagte sie, während sie die Rechnung ausstellte: „Schong dat et dir jeschmach hott. Dou kahns hey aales jähr proberen."

Knapp 20 Jahre später ist in Salm viel passiert. Oma Gretchens Haus ist nun leer und auch Annas Laden gibt es nicht mehr. Aber was ganz bestimmt bleibt, ist die Erinnerung an schöne Samstage in Salm und ein Schmunzeln im Gesicht, wenn ich mir vorstelle, was eine Kassiererin heutzutage wohl sagt, wenn ein kleines Mädchen angebissene Schokoriegel aufs Band legt. Ich weiß es nicht. Aber zumindest ganz bestimmt nicht wie Anna: „Schön, dass es dir geschmeckt hat. Du kannst hier alles gerne probieren."