Brief an Albert Hens

Das Leben hat sich im Großen und Ganzen wieder normalisiert

Maria Aschemann, Gerolstein

Nachfolgenden Brief (hier: gekürzt) schrieb mein Vater Peter Horsch sen. am 10. Januar 1949 an seinen früheren Schulkameraden Albert Hens, der in jungen Jahren nach Südafrika ausgewandert war und die Kriegsgeschehnisse der Heimat nur durch Berichte der Daheimgebliebenen erfuhr.

Lieber Albert!

Du wirst vielleicht erstaunt sein, heute von mir einmal etwas zu hören. Aber nach den vielen Jahren Deines letzten Besuches hier in Gerolstein hat sich soviel Schicksalhaftes und Ungeheuerliches zugetragen, dass ich nicht umhin kann, Dir heute darüber mal einen kleinen Bericht zukommen zu lassen. Ich glaube, dass auch Du im fernen Süden sicherlich schon länger darauf wartest, derartiges von hier einmal ausführlicher zu hören, als es Dir vielleicht in Rundfunk und Presse Deines Landes zufließt. Ich erfülle damit gleichzeitig ein Deinem Vater gegebenes Versprechen, der mich über Dein und Deiner Familie Befinden seit deinem Fortsein soweit als möglich auf dem Laufenden

hielt.

Über vier lange Jahre stand auch ich im Felde und kehrte nach zweimonatiger Gefangenschaft auf Peter und Paul 1945 zu meiner Familie zurück, die den Restteil des Hauses notdürftig bewohnte. Ich komme aber darauf noch nachher kurz zurück. Was geschah nun seit Deinem letzten Hiersein?

Du wirst Dich wohl noch der Stunden erinnern, in denen wir uns recht ausgiebig über die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, die das Naziregime heraufbeschwor, unterhalten haben. Es ist wirklich so gekommen, wie wir es geahnt haben. Das Machtstreben der regierenden Kräfte von 1935 hatte sich nach Deinem Weggehen erst richtig gezeigt. Weder dem Einzelnen, noch der Familie blieb irgendein Lebensbereich unangegriffen. In

alles mischte sich der Staat ein und die Tragik: keiner, der in wirtschaftlicher Abhängigkeit stand, konnte sich vor dem Pesthauch so fernhalten, wie es einen innerlich eigentlich zu tun trieb. Das Bestreben des Nazismus ging, wie es Dir vielleicht auch bekannt geworden ist, dahin, einen jeden, der den Namen „Deutscher" trug, auszurichten auf die Idole des Regimes und einen jeden so den Gelüsten der Allgewaltigen dienstbar zu machen. Wer nicht Mitglied der Partei oder einer Formation war oder zumindest nicht den Anschein gab, es zu sein, der konnte damit rechnen, größten Repressalien ausgesetzt zu sein, sei es, dass ihm seine Berufsausübung versagt wurde, sei es, dass ihm sonstige Schwierigkeiten gemacht wurden. Die Bespitzelung zeigte sich dabei überall. Das christliche Vereinsleben wurde ein Opfer staatlicher Maßnahmen, die Vermögen der Vereine verschwanden im Säckel des Staates, die Laienführer und auch die Geistlichen wurden mundtot gemacht. Unser Kolpingsbanner konnten wir aber retten, dadurch, dass es längere Zeit in Privatverstecken weniger getreuer Mitglieder gehalten wurde. Obwohl unsere einheimische Bevölkerung der ganzen Sache größten Teils innerlich fernstand, konnte es doch keiner öffentlich wagen, ein offenes Wort zu sprechen. So musste um jeden Preis geheuchelt werden, um die Existenz etc. zu erhalten. Auch Dein liebes Heimatstädtchen glich mit seinen Bewohnern nur noch einer Maskerade, auf der man sich auch alles Liebe hinter der Maske sagte. Erst ein Weltkrieg brachte nach vielen langen Jahren eine Wendung. Die militärischen Vorbereitungen spürbaren Umfanges zeigten sich hier in der Eifel durch den Bau des Westwalles. Tausende und Abertausende aus allen deutschen Gauen wirkten Tag und Nacht und stampften einen Bunker nach dem anderen aus dem Boden.

Den Kriegsverlauf selbst hast Du wohl von

dort aus vielleicht objektiver betrachten können, als hier selbst.

Gerolstein wurde Ende 1944 Kriegsschauplatz.

Die Bombardements der Flieger sowie der Be-schuss durch Artillerie zerstörten Alt- Gerolstein fast vollständig. Alle Brücken, sogar die kleinsten über Bahn und Kyll wurden restlos zerstört oder gesprengt. Von der Moß bis zum Bewinger Berg, von Lissingen bis Pelm fielen schätzungsweise drei bis viertausend leichte und schwere Bomben, ohne die vielen Tausende Brandbomben.

Unsere Kirche erhielt einen Volltreffer ins Seitenschiff, das evangelische Schwesternheim, sämtliche Schulgebäude, das Rathaus, die Hotels Heck und Zur Post, Wirtschaft Kleif-gen und anliegende Häuser wurden gänzlich zerstört. Das ganze Meerloch mit Sprudel und Florabrunnen wurde ein Trümmermeer. Kein Haus in ganz Gerolstein blieb ohne jeglichen Schaden. Die Bevölkerung war zum größten Teil rechtsrheinisch evakuiert. Etwa ein Drittel der Einwohner blieb in der Heimat und suchte Unterschlupf in selbstgebauten Bunkern, in den Höhlen der Munterley und Hustenley. Unser Dechant blieb mit seinen Kaplänen bei seiner Gemeinde und las des öfteren im Buchenloch und in der Büschkapelle die heilige Messe. Seine Samariterdienste: Brot und Milch für die Kinder und Kranken und auch die anderen zu beschaffen, verdienen besondere Würdigung. Vielen Sterbenden auf Feldern und in Straßengräben konnte er die letzte Wegzehrung geben, indem sich die „Braunen Helden" jenseits des Rheins in Sicherheit flüchteten. Meine Familie suchte von September 1944 -Januar Schutz in einer Höhle der Burg und später bis März - Einmarsch der Amerikaner - in einem selbstgebauten Erdbunker in der Nähe der Dietzenley.

Bei einem Angriff auf die Burg am heiligen Abend 1944 bekam mein Haus einen Bombenvolltreffer. Meiner Familie blieb noch ein einziges Bett übrig.

Schlimmer als all diese materiellen Verluste und Schäden sind jedoch die Menschenopfer. Neben den hundert Soldaten, die hier ihr Leben lassen mussten, hat die Gerolsteiner Zivilbevölkerung circa zweihundert Opfer zu beklagen, worunter viele gute Bekannte von

Dir sind, die ich jedoch nicht alle aufzählen kann. Hierzu kommen dann noch die circa 150 im Felde gefallenen Gerolsteiner. Darüber hinaus zählt unsere Pfarrei noch heute 38 Vermisste. Viele haben außerdem das wahnsinnige Geschehen nur noch als Krüppel überstanden. Das Elend, dass bei Kriegsende die Lage Gerolsteins charakterisierte, kann ich Dir, lieber Albert, nur in Stichworten schildern: Wohnungsnot, kein Fenster, keine Tür, Regen bis in die Keller, kein Wasser, kein Licht, keine Bahn; Hunger, fast kein Vieh und als Folge von allem: Plünderung dort, wo noch etwas zu sein schien, kurz: nichts zu reißen, nichts zu beißen.

Trotzdem begann der Aufbau mit übermenschlichem Fleiß nach einer Zeit gänzlichen Stillstandes. Nach einem halben Jahr gab's zum ersten Male wieder Post. Ende 1947 (zwei Jahre nach Kriegsende) fuhr wieder der erste Zug, und seit einem Monat fährt er auch wieder bis Prüm. Dank der Selbsthilfe auf redliche, aber vielmehr noch auf unredliche Weise, schafften Mann und Frau mit Kind und Kegel, ob reich oder arm, am Wiederaufbau der Wohnungen. In Gemeinschaftsarbeit wurden tausende Kubikmeter Schutt aus den Straßenzügen beseitigt, Wasserleitungen repariert etc. Auch ich habe zusammen mit meiner Familie mein Haus in schwerer Arbeit selbst wieder errichtet. Seit drei Monaten habe ich wieder den Wirtschaftsbetrieb eröffnet. Das Haus Deines Vaters blieb ja, wie Du auch wissen wirst, Gott - sei - Dank - vor größeren Schäden bewahrt.

So können wir nun Ende 1948 feststellen: das Leben hat sich im Großen und Ganzen wieder zeitentsprechend normalisiert. Viele Häuser sind neu aufgebaut. Ich sage zeitentsprechend, dass soll heißen, unsere Lage ist eben die, wie sie nach einem totalgeführten und aber auch total verlorenen Krieg nur eben sein kann. Vom Gesellenverein, dem Du ja auch eine Zeit angehört hast, sei Dir mitgeteilt, dass wir 1946 das Vereinsleben wieder aufgenommen haben. Der Gesellenverein, der sich heute einheitlich Kolpingsfamilie nennt, und der in seinen zwei Gruppen Altkolping (Meister) und Kolping (Gesellen) alle Berufstätigen anspricht, zählt heute wieder 120 Mitglieder. Ich selbst habe

1946 das Amt des Altseniors wieder übernommen. In den Familienabenden, die wie früher auch die berufliche Ertüchtigung zum Ziele haben, ist auch die Beratung der jüngeren Mitglieder hinsichtlich Aufbau von Existenzen oftmals Gegenstand der Diskussion. So setzen viele ihr Ziel und ihre Hoffnung auf Auswanderung. Vor allem aber nach Amerika, zumal sich am politischen Himmel schon wieder sehr dunkle Wolken zeigen. So, lieber Albert, habe ich Dir mehr geschrieben als ich wollte. Es ist eine halbe Nacht draufgegangen. Aber ich versprach es Deinem Vater, über die hiesigen

Schicksale einmal ausführlicher zu berichten, was bei ihm sicherlich Freude auslöste. Du weißt ja, wie er an Dir hängt und wie er sich über alles freut, was auch Dir eine Freude bereiten kann. Mir selbst war es auch schon seit langem ein Bedürfnis, mit Dir wieder in Kontakt zu treten, zumal wir dieses bei Deinem Abschied 1935 auch vereinbarten. So will ich mich für heute nun von Dir verabschieden und ich verbleibe mit vielen herzlichen Grüßen und guten Wünschen an Dich, Deine Gattin und Kinder Dein Peter Horsch nebst Familie