Mehr als eine Hiobsbotschaft

Ein kapitales Verbrechen

Brigitta Westhäusler, Hillesheim

Beim Bremsen rutschten die Reifen leicht über den Streifen Lavasand, der sich am Rand der Wiese gebildet hatte. Sie hatte ihr Ziel erreicht - die mächtige Eiche, die am Rand der Zufahrtsstraße zur Lavagrube in Walsdorf stand. Ein wahrhaft königlicher Baum! Ihre Äste dehnten sich weit nach oben und in die Breite, so dass ein riesiges Laubdach entstand, ein natürlicher Dom, in dem man Zuflucht suchen konnte und fand. Die Bank stand gerade richtig; weit konnte der Blick über die Hügel und Felder schweifen, und die eigenen Gedanken weit hinaus tragen. Als Treffpunkt ideal. Obwohl sich die L 27 nur ein paar Meter entfernt wie ein graues Band durch die Landschaft zog, drangen die Motorengeräusche nur gedämpft an ihr Ohr. „Wohin bewegen sich alle die Fahrer?", ging es ihr durch den Kopf. „Haben alle ein Ziel?" Irgendwie kamen ihr die Menschen in ihren fahrbaren Untersetzern wie programmiert vor. Ameisen, die einer bestimmten Aufgabe zugeteilt waren und nur diese zu erfüllen trachteten. Hatte sie nicht auch einmal zu dieser Spezies gehört? Aber seit der Pensionierung hatte sie ja Zeit und konnte sich den Luxus leisten, ihren Tagesablauf nach ihren Bedürfnissen zu gestalten. Manchmal besaß sie sogar zu viel Zeit. Aber seit ein paar Wochen hatte sie diese interessante Tätigkeit in der Bücherei, was genau ihren Vorstellungen entsprach. Lesen war ihr großes Hobby. Seit sie gelernt hatte Wörter zu entziffern, schon lange bevor sie in die Grundschule ging, haben Bücher sie nicht mehr losgelassen. Schön, die Zukunft mag in elektronischen Lesegeräten stecken, aber für sie ist das keine Option. Eine Wand mit Regalen und unterschiedlichen Buchrücken, ein bequemer Sessel, sanftes Licht, eine Tasse Kaffee und ein Buch in der Hand mit Seiten zum Umblättern, das ist für sie eine Art Paradies. Kaum etwas anderes kann sie derart entzücken, dass sie alles um sich vergisst. Ein leichtes Lächeln umspielte ihren Mund, als sie sich gerade eine solche Situation vorstellte. Aber niemand soll denken, dass sie deswegen eine weltfremde Person sei. Sie nahm immer Anteil am aktuellen Geschehen und interessierte sich für die Vorgänge um sie herum. Und ebenso übte auch die Vergangenheit eine große Faszination aus. Wie war es damals? Wie kam es eigentlich zu diesem oder jenem Ereignis? Diese und ähnliche Fragen beschäftigten sie. Und ganz klar waren auch interessante Kriminalfälle ihr Hobby. Agatha Christie und George Simenon blieben ihre Favoriten, wenn es auch inzwischen viele neue namhafte Autoren gab. Wie erstaunt war sie, als sie vor kurzem im Archiv, wohin man sie steckte, um - wie man sagte - ,ein bisschen Ordnung reinzubringen', ein altes Buch mit Dorfgeschichten entdeckte. Beinahe hätte sie es gleich in die Tonne für Entsorgung geworfen, so zerfleddert wie es aussah. Der Buchrücken hing lose, die Buchdeckel waren durch Feuchtigkeit und Staub gewellt und befanden sich in Auflösung; die Seiten glichen eher einer Loseblattsammlung, waren braun und fleckig, und dennoch, da war etwas, was sie zögern ließ. Wie zufällig ließ es sich auf Seite 32 öffnen. Ein verblasstes getrocknetes Blütenblatt kennzeichnete diese Seite und ließ sich erst mit leichtem Druck verschieben. Wie lange mochte es darin gelegen haben? Wer hatte es hinein gelegt? Das Buch war 1912 in einem Trierer Verlag erschienen. Wem hatte es wohl gehört? Zwei Initialen waren auf der Innenseite des Einbands zu lesen - L und W - in schöner Schnörkelschrift. Auf der anderen Seite sah man den alten Büchereistempel von 1949. Wahrscheinlich ist zu der Zeit das Buch der Bücherei geschenkt worden, damals noch Pfarrbücherei. Ja, und dann begann sie die Geschichte von Seite 32 zu lesen. Die altdeutsche Frakturschrift bereitete ihr keine Schwierigkeiten. Der Inhalt war ungefähr folgender:

Ein armer Bauer hatte fünf Söhne. Zusammen mit seiner Frau und seiner unverheirateten Schwester lebten sie auf einem kleinen Bauernhof, der nur das Nötigste abwarf. Das Leben war hart und bitter. Daher beschlossen die drei ältesten Söhne, ihr Glück in Amerika zu versuchen. Mühsam kratzten sie die erforderliche Mindestsumme zusammen und zogen von dannen. Tage, Wochen und schließlich Monate vergingen. Die Mutter verfiel in Schwermut und verlor jeglichen Lebensmut. Sie war nicht mehr in der Lage, den Haushalt zu bewältigen. Die Schwägerin pflegte sie nur widerwillig, und schließlich starb die Bäuerin, ohne von ihren Söhnen gehört zu haben. Der Bauer trug schwer am Tod seiner Frau. Er haderte mit dem Schicksal und machte sich große Vorwürfe, dass er nicht besser für die Familie hatte sorgen können. Seine zwei jüngsten Söhne hatten sich bei anderen Bauern verdingen müssen. Sein letztes Vieh war lange verkauft. Jämmerlich fristete er sein Leben. Und dass keinerlei Nachricht von seinen anderen Söhnen eintraf, vergrößerte sein Leid. Er hatte versucht, über den Herrn Pfarrer etwas in Erfahrung zu bringen, aber auch der konnte ihm nicht helfen. Ein Schiff mit Auswanderern war gesunken. Aber ob seine Söhne dabei waren, konnte man nicht sagen. Als er an einem Winterabend ein Holzscheit in den Ofen werfen wollte, hielt er inne, weil das Stück Holz eine merkwürdige Form aufwies. Er legte es beiseite, nahm ein anderes, welches er in den Ofen warf. Nun wandte er sich dem ersten Stück wieder zu, rückte die Petroleumlampe näher und betrachtete es genauer. Das runde Stück von einem Ast hatte eine Länge von gut 30 cm. Nach oben wurde es breiter, und rechts und links gingen wohl einst Nebenzweige ab. Jetzt sah man nur die Anfangsstücke. Stellte man das Holz auf die Unterkante, so konnte man eine Figur darin sehen, die die Arme empor hob. Unwillkürlich dachte er an einen Menschen, der um Hilfe bat und glaubte in dieser Entdeckung ein Zeichen zu erkennen. Am nächsten Tag machte er sich daran, das Holz zu bearbeiten. Er hatte so etwas noch nie vorher getan, aber seine Idee beflügelte ihn. Und tatsächlich gelang ihm eine Skulptur; ein Mann, das gequälte Gesicht und die Arme zum Himmel gehoben. Es war durchaus beeindruckend. Er stellte die Figur auf seinen Nachttisch, und jeden Abend vor dem Einschlafen nahm er sie in die Hand. Kurze Zeit später, ca. 14 Monate nach dem Weggang seiner Söhne, erhielt er die erste Nachricht aus Amerika. Er starrte immer wieder auf den Briefumschlag, weil er nicht glauben konnte, dass er real war und fürchtete sich beinahe vor dem Inhalt. Der Brief beschrieb die unvorstellbare Überfahrt und die schwierigen Anfangsmonate. Leider berichtete er auch vom Tod des dritten Bruders, der kurz nach der Ankunft an Typhus starb. Aber die beiden Ältesten haben es dann doch geschafft. Sie waren Besitzer einer schönen Farm und kamen allmählich gut zurecht. Sie konnten ihrem Vater sogar eine gewisse Summe überweisen, später sogar regelmäßig. Als er den Brief zu Ende gelesen hatte, brach er in Tränen aus. Er ging in seine Schlafstube und nahm seine Figur in die Hand. Lange saß er so da, dann traf er eine Entscheidung. Ein paar Tage später brachte er seinen Hiob, wie er sein Werk inzwischen genannt hatte, in die kleine Marienkapelle vom Nachbardorf, wo er ihn neben der Madonna platzierte. Er stellte auch ein kleines Holzschild daneben: „Bist Du von Hiobs Kummer getroffen, lässt die Maria dich wieder hoffen." Das Ganze war durch eine Glasglocke geschützt und mit einem kleinen Schloss versehen. Mehrmals in der Woche wanderte er zu seiner Figur und zur Madonna. Sein Schicksal wendete sich zum Guten. Hier könnte man meinen, sei die Geschichte zu Ende, aber sie geht noch weiter. Die Söhne gründen in Amerika ihre eigenen Familien. Nach dem Tod ihrer Tante, also der Schwester ihres Vaters, laden sie diesen sogar zu sich ein, aber der lehnt ab. Er will und kann die Strapaze der Reise nicht auf sich nehmen. Als er stirbt, reist der Älteste in seine Heimat zurück. In dem Nachlass findet er einen handschriftlichen Hinweis auf die Holzfigur und ihre wundersame Wirkung. Der Satz -"Es steckt etwas Besonderes in ihr" - weckt seine Neugier. Verwundert macht er sich auf den Weg zur Marienkapelle und will die Figur sehen, aber sie ist nicht mehr da. Er betreibt einige Nachforschungen, aber alle Hinweise führen ins Nichts. Er fühlt sich einer Mauer des Schweigens gegenüber. Resigniert gibt er auf. Am Abend, bevor er wieder nach Amerika zurückfahren will, wird er erschlagen. Seine Sachen sind durchwühlt worden, aber niemand konnte feststellen, was eigentlich gesucht wurde oder fehlte.

„Wo war Hiob?" Diese Frage stellte der Erzähler an das Ende seiner Geschichte, und diese Frage bewegte auch sie. Ein unzufriedenes Gefühl bemächtigte sich ihrer. Hatte wirklich niemand mehr sich dieses Falles angenommen? Gab es keinerlei Spuren oder Hinweise? Welcher Name verbarg sich denn hinter den Initialen? Warum lag das Blütenblatt auf Seite 32? Ihr Spürsinn wurde geweckt, und tagelang grübelte sie, wie sie das Geheimnis, das sie vermutete, lüften könnte. Da fiel ihr Petronius ein, ein alter Bekannter, der früher bei der Polizei war. Er war inzwischen auch schon viele Jahre im Ruhestand, aber er interessierte sich genau wie sie für merkwürdige Geschichten. Und er hatte außerdem Zugang zu Archiven und alten Registern. Ihm zeigte sie das Buch und gab ihm die Erzählung zu lesen. „In der Tat, ein hochinteressanter Fall", meinte der pensionierte Polizist. „Ich versuche etwas herauszufinden, und dann melde ich mich." Und jetzt war es soweit. Am Abend vorher hatte er angerufen. Sie wunderte sich zwar, warum er als Treffpunkt die Eiche gewählt hatte. Er meinte aber, dann könne man ungestört plaudern, aber irgendwie klang er komisch. Sie schloss die Augen und sog genüsslich den Duft von Gras und frischer Erde ein. Da spürte sie einen Luftzug und einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf. Dunkle Nacht umfing sie.

„Zu viel Neugier tut nicht gut", sagte der kräftige Mann, als er den leblosen Körper zu ihrem Auto schleppte und ihn auf die Rückbank legte. Er selbst setzte sich ans Steuer und fuhr Richtung Ortsausgang Walsdorf. Irgendwo in einem einsamen Waldstück wollte er das Fahrzeug stehen lassen. Natürlich trug er Handschuhe und bemühte sich, so wenige Spuren wie möglich zu hinterlassen. Und wie viele andere Täter spürte auch er das Bedürfnis über das zu reden, was ihn zu seiner Tat bewegt hatte, auch wenn seine Zuhörerin nicht mehr lebte. „Niemand soll das Geheimnis meiner Familie lüften! Ich wusste nicht, dass es das verdammte Buch noch gab. Es gehörte meiner Tante, die die Urenkelin des Bauern war. Mein Urururonkel - der jüngste Sohn des Bauern - hatte die Figur gestohlen. Im Innern fand er fünf kleine Goldstücke, die sein Vater vom Geld der „amerikanischen" Söhne erworben hatte. Mit diesen konnte der Jüngste dann seine eigene Schmiede errichten. Er erzählte niemandem davon, da er nicht teilen wollte. Und seinen Bruder hatte er getötet, weil dieser Verdacht geschöpft hatte. Das alles stand in einem Brief, den er an die Gendarmerie schrieb, ehe er sich erhängte. Aber der Brief erreichte den Adressaten nicht. Die Figur des Hiob habe er vernichten wollen, schrieb er, aber er konnte es nicht. Sie existiert heute noch, und ich habe sie versteckt. Das alles hat mir meine Tante auf ihrem Sterbebett erzählt und mir das Versprechen abgenommen, nie darüber zu reden. Aber das ist alles nicht mehr wichtig, denn es gibt niemanden mehr, den das interessieren könnte! Ihr Freund Petronius war auch zu neugierig. Er wird nichts mehr verraten können von dem, was er herausgefunden hat. Und nun ,gute Reise!'.

Was er nicht wusste: Als er ihren Körper ins Auto bugsierte, hatte er zufällig das Diktiergerät eingeschaltet, das sie bei sich trug und das unter den Sitz gerutscht war.

(Handlung und Personen sind frei erfunden)