Kanapins Johanna

Ingrid Schumacher †, Gräfeling

„Gehste mit bei Kanapins Johanna?" fragte ein Kind aus meiner Klasse. Das geschah 1939 und ich war „neu", das heißt erst vor wenigen Tagen in die zweite Volksschulklasse der St. Anna-Schule in Gerolstein gekommen und sehr darum bemüht, mich zu integrieren. Dies war eine Gelegenheit.

Aber wer auch immer Kanapins Johanna war, ich durfte eigentlich dort nicht hingehen, denn es war mir streng verboten, fremde Häuser zu betreten. „Warum?" fragte ich darum vorsichtshalber das Mädchen. „Et malt Engelscher."

Zum Beweis wurden mir bunte Engelbilder gezeigt, wunderschön, und durchaus geeignet, etwas Abwechslung in die Lesezeichensammlung unserer Gebetbücher zu bringen. Diese bestand bisher ausschließlich aus dünnen Filzplatten, die wir während der Predigt am Sonntag aus gezupfter Wolle herstellten. „Du kriegst eins jeschenkt", lockte das Mädchen.

Das Wollzupfen war auch nicht ungefährlich, wenn man zum Beispiel dringend etwas Gelb von den Handschuhen des übernächsten Kindes brauchte, und endete gelegentlich mit einer Ermahnung durch den „Kirchenschweizer". Schlimmeres würde ich wohl jetzt auch nicht riskieren.

Kanapins Johanna wohnte „im Flecken", in der Hauptsstraße in einem alten Haus, an das rechts neben der Haustür ein Heiligenhäuschen angebaut war. Das passte gut zu dem kleinen Schaufenster links der Tür, wo Johanna ihre kleinen Kunstwerke ausstellte. Im Haus war es dunkel, und auch die Wohnung kam mir nicht sehr hell vor. Aber all das wurde unwichtig beim Anblick von Johanna, die „Engelscher" malte, in unserem Beisein, die einen unerschöpflichen Vorrat an „Bildscher" besaß und jedem von uns - wir waren inzwischen zu einer Gruppe von fünf oder sechs angewachsen - eins schenkte. Seit dem Betreten des Hauses waren wir verstummt; auch zum Schluss stammelten wir nur ganz leise „Danke". Doch dann kam die Information, die in mir einen Familientrieb zum Leben erweckte: den Trieb zum Handeln. Denn Johanna sagte ganz beiläufig: „Ihr könnt die Bildscher auch kaufen."

Noch am gleichen Nachmittag begann ich daheim mit meiner eigenen Produktion. Alles, was sich an Pappdeckel fand, wurde in handliche Streifen geschnitten und zu Lesezeichen verarbeitet - mit Blumen, Vögeln, Sternen, alles abgepaust und angemalt. Am nächsten Tag in der Pause bot ich meine Ware feil: der Absatz war überwältigend. Schließlich verlangte ich nur 5 Pfennig, halb soviel wie Kanapins Johanna. Ich nahm Bestellungen entgegen und produzierte weiter. Etwa eine halbe Woche lang ging das gut. Ich hatte inzwischen fast 1,50 RM eingenommen - das Taschengeld von drei Wochen!

Dann ging mein Unternehmen jämmerlich zugrunde. Die Eltern einer Mitschülerin hatten davon erfahren, hatten einen Lehrer verständigt, und dieser hatte sich an meinen Vater gewandt. Ob der so wütend war wie er tat, bezweifle ich heute, aber damals.... Ich musste mit ihm zusammen in die Kirche gehen und das gesamte Geld in den Opferstock werfen. Auch den letzten Groschen, den ich noch retten wollte, nahm er mir aus der geballten Faust.

Noch heute frage ich mich: Warum durfte Ka-napins Johanna die „Bildscher" verkaufen und ich nicht?