Die Zeit läuft rückwärts

Roswitha Gräfen-Pfeil, Mosbach

Brockmüller war einer der Menschen, nach denen man sprichwörtlich seine Uhr stellen konnte. Vom morgendlichen Aufstehen bis zum Schlafengehen erledigte er präzise wie ein Uhrwerk alle notwendigen Verrichtungen des Tages.

Gewiss, er war freundlich. Aber auf eine Art, die seinen inneren Zeitplan nicht gefährdete. Ein paar unverbindliche Worte zum Hausmeister im Finanzamt, seiner Arbeitsstätte, oder zu Nachbarn gehörten selbstverständlich zu seinem Umgang mit Menschen, denen er im Alltag begegnete. Durch diese Korrektheit glaubte er zweifellos, seinerseits ein Anrecht auf einen reibungslosen Ablauf der Tage zu haben. Das Singleleben war wohlgeordnet, er hatte sich einen Lebensrahmen geschaffen, der frühere beunruhigende Turbulenzen seiner Meinung nach ausschloss. Auch heute war er pünktlich um 16.30 Uhr aus dem Büro gegangen. Er ging zur Rückseite des Gebäudes, wo er immer seinen Mittelklassewagen parkte. Neben dem Auto stand eine junge, unbekannte Frau, die ihn anschaute. Der direkte Blick dieser Frau war ihm sehr unangenehm. Er ging an ihr vorbei, setzte sich ins Auto und fuhr weit ausholend um sie herum. Irritiert nahm er im Rückspiegel ein zaghaftes Winken wahr. Er fühlte sich belästigt! Fast hätte er eine rote Ampel übersehen. Irgendwie erleichtert schloss er heute seine Haustür hinter sich und begann die übliche FeierabendRoutine. Nach dem Abendbrot legte er eine Langspielplatte mit Musik von Beethoven auf. Kurz bevor er den Kopfhörer aufsetzen konnte, klingelte es.

Verärgert über diese Störung riss er abrupt die Türe auf. Schon wieder diese junge Frau! „Sie wünschen?", fragte er unfreundlich. „Ich muss Sie sprechen, es ist ganz wichtig, auch für Sie", stammelte die Frau. Brockmüller wollte endlich seine gewohnte Ruhe wiederhaben und entgegnete ungeduldig: „Bitte, so sprechen Sie doch!" Die Frau schaute ihn an und flüsterte: „Ich habe gestern erfahren, dass Sie mein Vater sind."