„Ein Volk wird daran gemessen, wie es seine Toten bestattet"

Die Veränderung der Beerdigungskultur -

Friedbert Wißkirchen, Daun

„Er wurde in aller Stille beigesetzt " oder „Die Urnenbeisetzung fand im engsten Familienkreis statt". Diese oder ähnliche Formulierungen finden wir immer häufiger in Todesanzeigen.

Über die Zeitung oder eine schriftliche Todesanzeige erfahren wir, dass ein Mensch, den wir kannten, mit dem wir zusammen zur Schule gingen oder in anderer Weise verbunden waren, nicht nur tot, sondern schon beerdigt ist. Was bleibt, ist den Angehörigen nachträglich unser Mitgefühl zu übermitteln. Das, was in den Städten schonseit Jahrzehnten üblich war, hat auch unseren ländlichen Bereich, unsere Dörfer erreicht. 1994 wurde in Bonn eine Tante meiner Frau auf dem Zentralfriedhof in Bad Godesberg beigesetzt. Beerdigungen im Halbstundentakt; mal mit Pastor, mal ohne. Meist gingen fünfzehn bis zwanzig Personen hinter dem Sarg, die engsten Familienangehörigen, Freunde. „Unser" Pastor kam mit dem Taxi zum Friedhof; aus der Eifel waren doch noch etwa zwanzig Verwandte angereist, die Nachbarn und Mitbewohner der Verstorbenen konnte man an zwei Händen zählen. Als wir auf dem Weg von der Friedhofshalle zum Grab den Rosenkranz zu beten begannen, drehte sich der Geistliche verwundert um. So etwas, berichtete er mir auf dem Rückweg, habe er seit zwanzig Jahren nicht mehr erlebt. Natürlich war die Beerdigung durch ein Beerdigungsinstitut organisiert worden einschließlich eines Imbisses. So anonym wie in den Städten, geht es Gott sei Dank in unseren Dörfern noch nicht zu. Aber unsere Beerdigungskultur hat sich in den letzten sechs Jahrzehnten stark verändert.

Ein Sterbefall in den 50er Jahren

Ich kann mich als Junge von neun Jahren noch gut an eine Beerdigung in unmittelbarer Nachbarschaft erinnern. Meine Mutter und Großmutter unterhielten sich darüber, dass die Nachbarin sterbenskrank sei und sie hofften, dass Anna bald erlöst werde. Am Abend ging der Pastor, begleitet von einem Messdiener mit einem Glöckchen, an unserem Haus vorbei. Er war, wie die Großmutter bemerkte, auf dem „Versehgang" und brachte unserer Nachbarin die Krankensalbung, damals noch die „letzte Ölung" genannt. Am nächsten Morgen läutete von der Pfarrkirche die kleinste Glocke, das Totenglöckchen, das Zeichen, das jemand verstorben war. Schnell hatte sich die Nachricht in unserer Straße und im Dorf verbreitet, dass Anna in der Nacht ihr irdisches Leben beendet hatte. Am gleichen Tag sah ich, wie der Schwager der Verstorbenen Bretter zu einem nur 150 m entfernt wohnenden Schreiner trug. Es war das Holz, aus dem „Schreinisch Papp" den Sarg herstellen sollte, in Handarbeit und nicht wie heute aus einer Sargfabrik in Osteuropa.

Am frühen Abend nach dem Sterbetag nahm mich meine Großmutter an der Hand und wir gingen ins Nachbarhaus, wo die Verstorbene im Schlafzimmer in ihrem Bett aufgebahrt war, denn der Sarg war noch in Arbeit. Es waren schon Verwandte und andere Nachbarn da, die Anna mit Weihwasser segneten und anschließend den Rosenkranz beteten. Die Begegnung mit der Toten war mir schon etwas unheimlich, aber sie lag friedlich, mit geschlossenen Augen da, so dass sich meine anfängliche Angst verflüchtigte.

Am nächsten und übernächsten Tag gingen meine Mutter und Oma abends zur Kirche, denn es war üblich, dass der Rosenkranz für die Verstorbene dreimal gebetet wurde und nicht nur die Nachbarn, sondern viele Menschen aus dem Dorf mindestens einmal daran teilnahmen. Es kam der Beerdigungstag und der Sarg war vor dem Haus aufgebahrt, das halbe Dorf zur Beerdigung, die am frühen Vormittag statt fand, erschienen. Fast aus jedem Haus nahm eine Person teil. Die Männer legten für zwei Stunden die Arbeit nieder oder nahmen sich Urlaub, die Frauen waren selten berufstätig und die Teilnahme „Pflicht". Die Hauptverkehrsstraße war für eine halbe Stunde mit Menschen blockiert, heute undenkbar. Pastor und Messdiener, erschienen nicht in den üblichen farbigen Gewändern, sie trugen zum Zeichen der Trauer schwarz. Auch die Menschen, die Anna auf ihrem letzten Weg begleiten wollten, hatten schwarze Trauerkleidung angelegt. Vor allem die Familienangehörigen und Verwandten sahen es als Verpflichtung an, ihre Trauer auch durch die Kleidung auszudrücken. Nach den Gebeten trugen sechs Männer aus der Nachbarschaft den Sarg zum 500 m entfernten Friedhof. Das Grab hatte der Gemeindearbeiter und ein Gehilfe ausgehoben und nicht, wie in anderen Dörfern Brauch, Männer aus der Nachbarschaft. Anschließend fand die Sterbemesse statt. Vor dem Altar hatte der Küster eine Tumba aufgebaut, ein Lattengestell in Sargform, darüber war ein schwarzes Tuch gespannt. Meine Mutter war nicht mit zur Totenmesse, denn sie musste mit anderen Frauen aus der unmittelbaren Nachbarschaft Kaffee und Kuchen vorbereiten, wenn die Beerdigung zu Ende war und Familie und Verwandte im Hause erschienen. Am Nachmittag ging man noch einmal zum Friedhof, um das geschlossene Grab und die Kränze, meist selbst gebunden, zu besichtigen und zu beten, bevor sich die auswärtigen Beerdigungsteilnehmer auf den Heimweg machten. Am Abend konnten die für den Beerdigungskaffee leer geräumten Zimmer im Untergeschoss wieder ihrem eigentlichen Zweck zugeführt werden. Zwei Wochen später fand das zweite Sterbeamt statt, sechs Wochen später das dritte Sterbeamt oder Sechswochenamt. Die Familienangehörigen trugen zum Zeichen der Trauer, vor allem bei der Sonntagskleidung ein Jahr lang „schwarz", später reduzierte sich die „offizielle" Trauerzeit auf sechs Wochen. Ein Jahrgedächtnis mit Messfeier war die Regel. Über viele Jahrzehnte wurde das Grab liebevoll gepflegt, bepflanzt und an Allerheiligen mit Tannengrün in kunstvollen Mustern zugelegt. Eine Besonderheit war die Beerdigung von Kleinkindern. Der kleine weiße Sarg wurde von Mädchen, die im gleichen Jahr zur Kommunion kamen, in ihren weißen Kommunionkleidern zum Friedhof getragen, Die weiße Farbe des Sarges und der Kleidung symbolisierte, dass diese Kinder noch ohne Sünde waren.

Auch als Messdiener waren die Beerdigungen am Vormittag und damit während der Schulzeit eine willkommene Abwechslung. Eine Viertelstunde vor der Beerdigung durften wir die Schule Richtung Kirche verlassen und nach der Beerdigung beeilten wir uns auch nicht, um wieder schnell am Unterricht teilzunehmen. Dazu gab es oftmals eine, manchmal zwei Mark mit dem Hinweis, ihr könnt ja nicht mit zum Beerdigungskaffee.

... und heute?

Die seit Jahrzehnten geltende Ordnung hat sich seitdem gewandelt. Früher wurden die Menschen im Dorf geboren, arbeiteten dort und starben oft dort. Die gesellschaftlichen Veränderungen seit den 1970er Jahren, Mobilität beim Wohnen und Arbeiten, Vereinsamung und Anonymisierung, Distanz zur Kirche und Verlust des Glaubens, Auflösung von Bindungen wie Ehe und Familie haben auch Sitten und Gebräuche bei Todesfällen und Beerdigungen stark verändert. Starben die Menschen. In den 1950er Jahren noch meist zu Hause, begleitet von der Familie, beenden sie heute das Leben im Krankenhaus oder Altenheim, oft ohne die Begleitung ihrer Angehörigen.

Das, was früher Familie, Gemeindearbeiter (Totengräber), Nachbarn, Schreiner und Gärtner machten, wird heute vom Bestattungsunternehmen erledigt, bis hin zur Beratung über den Text des Totenzettels oder der Todesanzeige. In den Städten kennen manche Menschen nicht einmal mehr alle Mitbewohner des Hauses, in den Dörfern auch nicht mehr Jeden in der Straße. Die Teilnahme der Nachbarschaft an Trauer und Tod ist durch die veränderten Dorfstrukturen immer weiter rückläufig. Hinzu kommen dann noch Sätze in Todesanzeigen: „Von Beileidsbekundungen bitten wir abzusehen." Die Dorfgemeinschaft, vor allem die Nachbarn, die früher Trost und Mitgefühl übermittelten, werden ausgeschlossen.

Der Rosenkranz, der drei Tage vor der Beerdigung gebetet wurde, ist durch ein einmaliges Totengebet abgelöst worden. Heute wird der Tote in der Leichenhalle aufgebahrt; die Beerdigung findet am Nachmittag statt, damit nicht ein voller Tag bei der Arbeit verloren geht. Auch in unseren ländlichen Bereichen nimmt die Zahl derjenigen ab, die die Verstorbenen auf ihrem letzten Weg begleiten. Der Beerdigungskaffee, für den früher das halbe Haus ausgeräumt werden musste um Verwandte und Nachbarschaft aufnehmen zu können, findet in der Gaststätte oder im Bürgerhaus statt. Auch die Kleidung als Zeichen der Trauer hat sich gewandelt; wer trägt heute bei Beerdigungen noch dunkle - geschweige denn schwarze - Kleidung; selbst Angehörige sehen das als überzogen und unnütze Geldausgabe an.

Feuerbestattung - Anonyme Bestattung -Rasengräber - Friedwald

Obwohl Griechen und Römer schon sehr früh aus hygienischen Gründen und um der Seuchengefahr zu begegnen, die Feuerbestattung einführten, wurde dies in wenigen Städten Deutschlands nach 1900 aus Platzgründen in geringerem Umfang praktiziert. „Erst 1963 gestattete die Katholische Kirche offiziell die Wahl zwischen Erd- und Feuerbestattung"2. Ich erinnere mich an einen Fall aus meinem Heimatort Ende der 1950er Jahre. Ein im Dritten Reich sehr aktiver Mann, war aus der Kirche ausgetreten und ließ sich nach dem Tode verbrennen. Die Asche wurde von einer Brücke in die Mosel verstreut. Dieses ungewöhnliche Ereignis bildete Wochen lang Diskussionsstoff im Dorf und Unverständnis und Kopfschütteln.

Heute ist die Einäscherung und Urnenbestattung zur Normalität geworden. Ende der 1980er Jahren kam der Umbruch, mehr als die Hälfte aller Beerdigungen 2011 in Deutschland erfolgten als Urnenbestattung. Auch anonyme Bestattungen, ob als Urne oder Sarg auf Rasenflächen finden immer häufiger statt. Grabplatten über die ganze Grabfläche machen die Unterhaltung „pflegeleicht". Ursache für diesen Wandel ist sicherlich der heute fehlende Familienverbund. Kinder wohnen nicht mehr im gleichen Dorf oder der gleichen Stadt wie die Eltern, manchmal weit entfernt. Dann hört man oft von älteren Menschen: „Ich kann meinen Kindern doch nicht zumuten, dass sie über solch weite Entfernungen mein Grab pflegen." Der Friedwald ist eine weitere Alternative zum Friedhof. Schon zu Lebzeiten kann man einen Baum in einem dazu ausgewiesenen Wald auswählen, unter dem die Urne beigesetzt wird. Seebestattungen und das Verstreuen der Asche per Flugzeug sind andere Bestattungsmöglichkeiten. Eines spielt in der Zwischenzeit auch eine Rolle: die Beerdigungskosten. Hat es noch etwas mit Pietät zu tun, wenn im Internet Billigangebote für Bestattungen angeboten und Leichen nach Osteuropa transportiert werden, weil dort die Einäscherung sehr viel günstiger ist. Erst kürzlich ging der Fall durch die Presse, dass ein Fahrzeug eines Bestatters mit 8 Särgen gestohlen wurde, weil die Diebe nicht wussten, dass es ein Leichentransport zum Krematorium war. Schon fast als makaber muss man Besichtigungsfahrten von Krematorien per Reisebus in östliche Nachbarländer bezeichnen. Ein Bestatter drückte den Wandel der Beerdigungskultur so aus: „Die Wertschätzung für die Verstorbenen ist zunehmend abhanden gekommen, vor allem in den Großstädten."3 Dazu passt auch, dass auf ländlichen Friedhöfen Gräber oft nach zehn bis fünfzehn Jahren von den Angehörigen abgeräumt und eingeebnet werden um Kosten und Aufwand zu sparen, obwohl die Ruhefrist von 25 - 30 Jahren noch nicht abgelaufen ist. Die Vorfahren, die uns im Tod vorangingen, sind unsere Verankerungen im Leben. Der Friedhof, das Grab, ein Ort um Zwiesprache mit den Toten zu halten und die Verbundenheit zu pflegen, verliert immer mehr an Bedeutung. „Als mein Großvater starb, war ich gerade mal sechs Jahre alt. Mit meiner Mutter stand ich vor dem offenen Grab unserer Familie... Heute bin ich selbst Großvater und die Szene, die ich immer noch vor meinem geistigen Auge sehe, als wäre sie gerade ein paar Tage her, ist heute Geschichte. Was vor 60 Jahren gängige Praxis war, hat heute Seltenheitswert. Es ist nicht einmal klar, ob meine Enkel überhaupt an einem Grab stehen werden...4."

Auch die Beerdigungskultur in der Eifel hat sich verändert, sicherlich nicht zum Positiven, denn der gesellschaftliche Wandel schlägt sich auch im Bestattungswesen nieder! Was würde wohl der griechische Staatsmann Perikles dazu sagen, der schon 500 Jahre vor Christus die Behauptung aufstellte:

„Ein Volk wird daran gemessen, wie es seine Toten bestattet"

„Zukunft braucht Erinnerung. Erinnerung, wo wir herkommen, wo meine Wurzeln sind. Und in dem Sinne kommt dem Friedhof eine ganz große Bedeutung zu, auch in meiner Lebensphilosophie und Einstellung."5 Wenn ich in Urlaub bin, schaue ich mir auch immer den Friedhof des Urlaubsortes an. Für mich stellt der Friedhof eine Visitenkarte der Gemeinde dar. In meinem Leben habe ich viele Menschen kennen gelernt. Wenn ich einen Friedhof besuche, schaue ich mir immer die Grabsteine oder Kreuze und Namen an und stelle sehr oft fest: Den hast Du gekannt! Manchmal ist eine besondere Erinnerung damit verbunden. Wenn unsere Einstellung sich nicht ändert und im wahrsten Sinne des Wortes über dem Verstorbenen nur noch „Gras gewachsen ist", ohne das ein Name an ihn erinnert, dann geht etwas verloren - die Verbindung zu den Toten. Wir haben vieles verlernt, was einmal selbstverständlich zum Umgang mit Tod und Trauer gehört hat.

Anmerkungen:
1 „Schreinisch Papp" - Schreinisch = Hausname (abgeleitet vom Beruf), Papp = Vater
2 WIKIPEDIA - Feuerbestattung
3 Die Welt , 1. November 2012, Seite 12, „Billig unter die Erde"
4 www.metzen-bestattungen.de
5 Fritz Roth, Bestatter aus Bergisch Gladbach in einer WDR-Sendung „200 Jahre Friedhofskultur - Melaten in Köln"