Dorf im Wandel - ganz persönlich

Anja Meis, Koblenz

Fast 25 Jahre ist es nun her, dass ich aus der Eifel weggezogen bin. Damals für mich ganz sicher - ich würde nach dem Studium so schnell wie möglich wieder zurückkehren. Drei Geschwister waren wir zu Hause und gehörten zu der Generation, als viele Eltern begannen, mit ihren Kindern zu Hause Hochdeutsch zu sprechen, da sie befürchteten, dass diese sonst Probleme in der Schule und überhaupt in ihrem weiteren Leben bekämen. Nicht so meine Eltern: „Bej oas jett Platt jeschwaat onn dat hott noch keenem jeschoad!" - so lautete ihre Devise, und ich bin ihnen sehr dankbar für diese Entscheidung. Platt ist für mich nicht nur Dialekt, sondern meine Muttersprache, in der ich bis heute denke und gerne auch einmal fluche oder schimpfe. Viele Wochenenden verbrachten wir auf dem Sportplatz, da mein Vater, der auch verschiedene Ämter im Sportverein innehatte, und mein Bruder Fußball spielten. Obwohl ich mich nicht für Fußball interessierte, war es doch eine schöne Zeit, da fast alle gleichaltrigen Freundinnen dieses „Schicksal" mit mir teilten und wir am Rande des Spielfeldes viel Spaß hatten. Wenn nicht Fußball gespielt wurde, machten wir lange Spaziergänge durch den Densborner Wald, und mir schien es, als würde kein anderes Kind im Dorf alle Spazierwege so genau kennen wie ich. Gerne wäre ich am Wochenende auch einmal nach Gerolstein oder Bitburg gefahren, da wir aber kein Auto hatten, stellte sich diese Frage gar nicht erst. Damals war „Wandern" noch kein Trendsport, und so sprach man bei uns auch nicht von „wandern" sondern „ma jong spazeeren", nicht auf Traumpfaden, sondern schlicht und ergreifend „duasch de Besch".

Ja, es war überhaupt kein Zuckerschlecken, sich damals als Eifeler zu bekennen, denn wir galten ja als „Eifeler Bauern", womit gemeint war, wir seien hinterwäldlerisch, sprächen kein richtiges Deutsch und hinkten dem aktuellen Zeitgeschehen hinterher. Mein Vater jedoch, der Zeit seines Lebens immer stolz darauf war, ein waschechter Eifeler zu sein und nie irgendwo anders auf der Welt hätte leben wollen, ließ uns gegenüber keinen Zweifel daran, auf welch herrlichem Fleckchen Erde wir doch lebten.

Die Nachmittage verbrachten wir mit unseren Freunden im Dorf; man traf sich auf der Straße, auf dem alten Schulhof, auf dem Spielplatz, nach den Hausaufgaben hatten alle Zeit. Wehmütig denke ich heute daran zurück, wie einfach das Spielen damals noch war, denn kaum ein Kind hatte feste Nachmittagstermine, wie Reiten, Ballett, Klavierunterricht... Fernsehen begann erst am Abend und Computer und Handys waren noch nicht erfunden. Wenn ich mit meinen Freundinnen telefonieren wollte, so musste ich im kalten Flur stehen, da das Telefon ja an der Schnur befestigt war und meine Mutter rief in regelmäßigen Abständen: „Mach es vieron, dat kost jo alles viel Jeald!" und am besten sollten wir ohnehin nur nach 18.00 Uhr oder am Wochenende telefonieren, weil es ja da billiger war. Wollte man wirklich einmal ungestört telefonieren, so musste man sich auf den Weg zur öffentlichen Telefonzelle an der Kyllbrücke am Ortsausgang machen; dann brauchte man aber auf jeden Fall genügend Groschen, schließlich musste ja man einkalkulieren, dass ungefähr die Hälfte der Münzen durchfielen. Dann stand man da - in der schmuddeligen, meist nach kaltem Zigarettenrauch riechenden Telefonzelle und musste damit leben, dass sich vorbeigehende Mitbürger fragten: „Matt weam saal hatt daan su heemelisch ze telefoneren honn?" Heute frage ich mich schmunzelnd, wie wir damals nur unsere Kindheit und Jugend ohne Mobiltelefone, Facebook und Skype überlebt haben.

Als Jugendliche fuhren wir an den Wochenenden zu den „Kirmesmusiken" oder auch gerne zur legendären Disko nach Pelm, die wir selbst lächelnd als „Bauerndisko" bezeichneten. „Clubs" gab es damals noch nicht, das höchste der Gefühle war das „Golden Gate" in Gerolstein. Egal aber wohin es ging, vorher gingen wir noch in die Vorabendmesse, es war wie ein ungeschriebenes Gesetz. Und war man erst mal unterwegs, so war man eben auch nicht mehr erreichbar für die Eltern. Heute wundere ich mich darüber, wie locker meine Eltern es ertragen haben, uns Kinder weder telefonisch noch per SMS erreichen zu können.

Ich bin immer gerne nach Hause gekommen, auch wenn die Besuche im Laufe der Jahre etwas seltener wurden. Immer häufiger musste ich so natürlich feststellen, dass ich viele Dorfbewohner nicht mehr kannte, weil sie zugezogen waren und dass ich die Kinder auf dem Spielplatz nicht mehr zuordnen konnte. Viele der „Originale", an die ich mich aus meiner Kindheit und Jugend noch so gut erinnern konnte, verstarben im Laufe der Jahre und Häuser wurden verkauft. So wurde das Thema „Dorf im Wandel" für mich in den vergangenen Jahrzehnten sehr greifbar, war meine Heimat doch nicht mehr dieselbe, die ich als junge Erwachsene verlassen hatte.

Auch mein Vater gehörte zu den echten Originalen im Dorf. Mit großer Begeisterung schrieb er über viele Jahre hinweg an einer Dorfchronik, sammelte dazu Daten, Bilder, aber auch viele Geschichten und Anekdoten der ältesten Dorfbewohner, die er regelmäßig zu Hause besuchte, um von den alten Zeiten zu erzählen. Überhaupt hatte er immer Zeit für ein Gespräch und unterhielt sich auch gerne mit Feriengästen und den Zugezogenen über seinen Heimatort. Seine eigenen Erinnerungen schilderte er in Gedichten, die er natürlich, wie könnte es bei einem waschechten Eifeler anders sein, auf Platt verfasste und von denen einige in den vergangenen Jahren auch in diesem Jahrbuch veröffentlicht wurden. Ein großes Anliegen war ihm der Erhalt und die Pflege des Eifeler Platts und so sammelte er akribisch Wörter, von denen er befürchtete, dass sie ganz verloren gehen könnten, denn auch der Dialekt ist, wie das Hochdeutsche, einem stetigen Wandel unterworfen. Auch alte Eifeler Bräuche und Erinnerungen an seine Familie, aber auch Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg schrieb er nieder, damit diese für die Nachwelt erhalten bleiben.

Im Winter des vergangenen Jahres erkrankte mein Vater schwer und verstarb nach nur vier Monaten im Frühjahr dieses Jahres, den Kopf noch voller Ideen für neue Gedichte und Projekte für „sein" Dorf. Und damit ist für mich das Thema „Dorf im Wandel" schließlich zu einem ganz persönlichen geworden, denn mit ihm ist nicht nur mein Vater gestorben, sondern ein weiteres wunderbares Original unserer und besonders meiner Eifel für immer von uns gegangen.