Ein Dorf in Aufruhr

Eine Frau braucht keinen Führerschein

Helene Dümmer, Hillesheim

In der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts bürgerte sich in Lissendorf der Brauch ein, dass die Männer nach Feierabend im Gasthaus Sonntag auf „ein Bierchen" einkehrten. Wohlweißlich nur die Männer, denn Frauen oder gar Mädchen hatten damals in einer ordentlichen Dorfkneipe selbst tagsüber nichts zu suchen. Lediglich bei den seltenen Tanzveranstaltungen freute man sich über ihre Anwesenheit. Die Männer standen nach ihrer beruflichen Tätigkeit im Gasthaus um die Theke herum, diskutierten über Adenauers Politik, berichteten über technische Neuigkeiten am Arbeitsplatz zum Beispiel bei der DEMAG in Jünkerath, träumten von einem Einfamilienhaus oder gar von einem eigenen Auto, vielleicht in ein paar Jahren. Auch erteilten sie sich wohlmeinende Ratschläge in Familienangelegenheiten. Damals gab es noch keinerlei öffentliche Beratungsstellen für alle Probleme, die auftreten können. Die abendlichen Begegnungen im Gasthaus bargen auch einen nicht zu unterschätzenden Wert in sich. Außerdem konnte man am Fernseher des Gasthauses Nachrichten, auch aus der Sportwelt anschauen; diese boten unendlichen Sprachstoff. Viele Haushalte hatten damals noch kein Zeitungs-Abo und mit der Anschaffung eines teuren Fernsehgerätes wartete man besser vorläufig noch. Gegen 19 Uhr löste sich normalerweise die Gesellschaft auf. Die Frauen hatten zu Hause meist frisch gekocht, man kannte noch keine Werks-Kantine oder eine Imbissbude im Ort. In diese friedliche Männerwelt schlug eines Abends der Blitz ein. Ein Lebensmittel-Großhändler erklärte eines Abends, er habe seine 18-jährige Tochter, die als Lehrling im elterlichen Betrieb mitwirkte, in der Fahrschule angemeldet. Die Männer waren entsetzt, einige von ihnen konnten noch keinen Führerschein vorzeigen. Sie empfanden es als ungeheuerlich, dass „einem Mädchen ein Auto unter den Hintern geschoben werden sollte." Sie kamen einfach mit dieser Vorstellung nicht zurecht. Einer von ihnen fragte den Kaufmann sogar, ob er noch bei Sinnen sei. Vielleicht fürchtete er sich davor, dass möglicherweise seine Frau oder seine Tochter ähnliche Ansprüche an den Herrn im Haus stellen würde. Auch der Fahrlehrer äußerte sich zunächst skeptisch, hatte er doch noch nie ein so junges Mädchen ausgebildet. Schließlich reagierte er doch als Geschäftsmann. Im Dorf selbst wurde das Mädchen plötzlich schief angesehen, wurde mit einigen dummen Aussagen konfrontiert, aber sie dachte nicht daran, sich dem Dorftratsch zu beugen. Der Fahrlehrer wunderte sich zunächst, dass das Mädchen noch nie „schwarz" gefahren war, dann aber erfreute er sich am zunehmenden Sicherheitsgefühl der Fahrschülerin. An einem Abend erklärte er im theoretischen Unterricht Aufbau und Funktion eines Motors, der auf seinem Tisch stand. Weil die vielen größeren Männer ihr die Sicht wegnahmen, sicherlich ungewollt, drängelte es sich nach vorne. „Bleib hinten, das brauchst du nicht zu wissen, die Männer müssen mit dem Führerschein später ihre Familien ernähren": Nach dieser schockierenden Aussage stand für die Schülerin fest, dass sie sich andere Hilfe zum Führerschein-Erwerb besorgen musste. Also sprach sie, mit Vaters Einverständnis versehen, den Werkstattleiter in seiner Firma an. Er nahm die Fahrschülerin gerne unter seine Fittiche, vermittelte ihr mit großer Geduld technisches Grundwissen, übte sogar mit ihr sorgfältiges Tanken, Öl - und Reifenwechsel und vor allen Dingen das Kartenlesen vor einer Reise. Nach neun Fahrstunden stand die praktische Fahrprüfung in Gerolstein im Januar 1959 an. Der Fahrlehrer hatte dort mit ihr zwei Fahrstunden durchgeführt. An der steilen Auffahrt zur Katholischen Kirche hatten sie das Anhalten und problemlose Weiterfahren nachhaltig trainiert. Da der Prüfingenieur mit der allgemeinen Fahrweise zufrieden war und das Anfahren am Berg wunderbar funktionierte, erhielt das Mädchen den begehrten Führerschein auf Anhieb. Der Kommentar des Fahrlehrers lautete, neben einem knappen Glückwunsch: „Jetzt fahr aber auch jeden Tag, dann wirst du allmählich perfekt!"
Für diesen Führerschein bezahlte das Mädchen damals einhundertneunzig Mark!