Tante Mariechens Heimkehr

Christine Kaula, Wipperfürth

Man sprach nicht mehr viel von Marie, sie war nun schon ein paar Jahre fort aus ihrem Heimatdorf und mit ihrem Mann in dessen Dorf gezogen. Manchmal erinnerte man sich noch an die denkwürdigen „Hillig" vor ihrer Hochzeit mit Franz. Ab und zu, aber sehr selten, besuchte sie ihren Bruder Karl und dessen Frau, blieb wohl auch schon einmal über Nacht, besuchte die Kirche, den Friedhof, ihre Freundin Klara und Trude vom Lebensmittelladen, bei der sie stundenweise gearbeitet hatte. Indes ging das Leben im Dorf weiter, jeder hatte seine Sorgen, jeder ging seinem Tagewerk nach. Dann starb Mariechens Bruder Karl, und Marie kam zur Beerdigung ins Dorf. Nach dem Beerdigungskaffee, der im kleinen Saal der Gastwirtschaft abgehalten worden war, ging sie noch mit zurück zum Haus. Schweigend saßen sich Schwester und Witwe gegenüber. „Was willst du nun anfangen", fragte Marie ihre Schwägerin Gertrud. „Paul übernimmt den Hof, und Fritzchen arbeitet ja sowieso im Wald", meinte Traut gleichmütig, „das geht alles so weiter wie jetzt, Karl konnte ja sowieso nicht mehr viel schaffen." - „Will Paul nicht heiraten?" -„Doch, er wollte im Sommer heiraten, aber jetzt will er sicher das Trauerjahr abwarten. Er baut übrigens ein eigenes Haus dort hinten auf dem alten Gartenstück, es wird ganz groß und modern. Wie geht es dir denn eigentlich so an der Mosel?" Marie antwortete, ja, gut gehe es, sie hätten ja die schöne Wohnung im Erdgeschoss, oben wohne der Sohn ihres Mannes mit seiner Familie. Franz kam von einem kurzen Spaziergang zurück und mahnte zum Aufbruch. Und so gingen die Jahre dahin. Dann geschah das Unfassbare, Franz erkrankte auf den Tod, sie pflegte ihn noch ein paar kurze Wochen, dann war alles vorbei. Weinend stand sie am Grab, auf dem Stein würde nun neben dem Namen seiner ersten Frau nun auch sein Name stehen. Und was wurde nun aus ihr? Langsam ging sie in ihre Wohnung zurück. Kalt war ihr und einsam fühlte sie sich, noch einsamer noch als zu der Zeit, als sie noch unverheiratet war. Sie feuerte den Ofen an und setzte sich in den Lehnstuhl, in dem Franz immer gern gesessen hatte, und zog eine Decke über die Beine. Erschöpft schlief sie ein. In den nächsten Wochen dachte sie viel darüber nach, was sie nun anfangen sollte. Mit Franz zusammen war das Leben in seinem Dorf angenehm und friedlich gewesen, sie hatten wenige, nette Bekannte gehabt, aber meistens waren sie doch für sich geblieben. Sie fühlte sich einsam, sehnte sich plötzlich nach ihrem Dorf. Dort wollte sie alt werden, da war sie wirklich zu Hause. Marie nahm Kontakt mit ihrer Familie auf, die Schwägerin war gern bereit, sie aufzunehmen, dann wäre sie selbst nicht mehr so allein, die Söhne hatten das Haus längst verlassen, die Bauernschaft war aufgegeben, sie wohnte allein im Haus. Paul und Fritzchen kamen, Marie zu helfen, ihre Habseligkeiten zu packen und fortzufahren. „Den Sessel hätte ich so gern mitgenommen", meinte Marie, „so als Andenken an Franz, sonst will ich nichts." Zwei Zimmer hatte Gertrud an Mariechen abgetreten, einige Zeit hatten sie zu tun mit Räumen und Einrichten, schließlich war sie ja keine junge Frau mehr, und das alles ging ihr nicht mehr so rasch von der Hand. Dann war sie fertig. Jetzt aber wollte sie einmal mit Ruhe durchs Dorf gehen, und alte Bekannte besuchen. Langsam schritt sie durch die Straßen, ganz bewusst betrachtete sie die Häuser, erst jetzt wurde ihr so richtig klar, wie viel sich in den Jahren ihrer Abwesenheit verändert hatte. In ihren kurzen Besuchen während ihrer Ehe war ihr manches gar nicht aufgefallen. Sie suchte nach alten Bekannten, musste feststellen, dass manche der alten Häuser leer standen, ganz verschwunden waren, oder durch andere, moderne, ersetzt worden waren. Ein ganzer Ortsteil war völlig neu, mit breiten Straßen und schick verputzten Häusern mit glasierten Dachpfannen. Der Laden war zu, die Gaststätte auch. Das Pfarrhaus sah unbewohnt aus, die Kirchentür war abgeschlossen. Wie ruhig es im Dorf geworden war! Man hörte keine Traktoren mehr, das Muhen der Kühe war verschwunden, ab und zu bellte ein Hund. Hin und wieder sauste ein Auto über die Hauptstraße. Aber das war es nicht allein, was sie eigenartig anmutete; irgendetwas anderes fehlte. Plötzlich wusste sie es, die Kinderstimmen waren verstummt. Niemand lachte oder rief, keine Jungen rannten ihrem Ball nach, keine Mädchen saßen mit Puppen in den Hauseingängen. Endlich fand sie eine alte Cousine beim Unkrautjäten im Garten. Sie tranken eine Tasse Kaffee miteinander, und die Verwandte erzählte ihr, wer jüngst wieder alles gestorben, und wer das Dorf verlassen hatte. „Nächste Woche ist Dorffest, du wirst auch neue Menschen kennenlernen, und sehen, wer von den Alten noch da ist. Die Zeit bleibt halt nicht stehen, wir müssen das Beste daraus machen. Traurig ist nur, dass so wenig junge Leute da sind, es werden kaum noch Kinder geboren." - „Das ist mir auch schon aufgefallen, man sieht ja kaum noch Kinder auf der Straße. Aber was sind das denn für neue Leute? Vorhin sah ich einen älteren Herrn spazieren gehen, der grüßte mich freundlich." „Das ist ein alter Richter, der verbringt hier seinen Lebensabend. Es gibt auch noch andere, ältere Ehepaare oder einzelne Leute, die haben sich hier niedergelassen oder verbringen ihre Wochenenden hier. Aber junge Leute gibt es wirklich kaum noch. Unser Dorf ist so schön und modern geworden, aber es fehlt doch etwas, oder nicht?" Darin waren sich die beiden einig, früher war das Leben zwar schwerer, härter gewesen, vieles viel schwieriger zu bewältigen, aber es war doch immer etwas los gewesen, man hatte doch richtig gelebt! „Wir müssen das Beste daraus machen", meinte Mariechen, die das alles nicht so hinnehmen wollte, und in der sich erheblicher Widerspruch regte, „ich bin jetzt wieder hier zu Hause und habe keine Lust, mich hinter den Ofen zu setzen. Wir Alten müssen uns zusammentun, überlegen, was wir gemeinsam noch auf die Beine stellen können. Wir wollen doch hier nicht versauern!" Beide beschlossen, sich auf dem Dorffest Gesinnungsgenossen zu suchen, und gemeinsam zu überlegen, wie man dem entgegenwirken könnte. Die Cousine holte Zettel und Stift und sie schrieben auf, was sie einmal gern machen würden: „Tagestouren machen, Malen lernen, gemeinsam Bücher lesen, Filme anschauen, zusammen handarbeiten, Kinder hüten, miteinander einkaufen fahren, kleine Wanderungen machen, Feste feiern, Arztbesuche organisieren, Krankenbesuche machen Es würde zu tun geben, da waren sie sich beide sicher. Auf ihre Weise würden sie dem demografischen Wandel entgegenwirken.