Die Kirche im Dorf lassen

Hermann Hein, Daun-Neunkirchen

Ich erkunde mein Heimatdorf Neunkirchen noch einmal, aber mit den Augen eines Erwachsenen, der seit sieben Jahrzehnten sozusagen jeden Stein hier kennt. Auffällig ist zunächst, dass alle Straßen und Winkel geteert sind. Früher war das anders. Die Straßen und Wege hatten eine Schotterschicht, die nur abgesandet war. Samstags wurden Straße und Hof gekehrt. War man zu früh dran, lief man Gefahr, dass noch ein Fuhrwerk mit Gras oder Heu daher kam und Ladung verlor. Oder die Rindviecher, die abends von der Weide kamen, ließen ausgerechnet auf den gekehrten Flächen ihre Kuhfladen fallen. Das war ärgerlich, weil das ja wieder beseitigt werden musste. Straßenkehrer sind rar geworden.

Die Häuser sind farbenfroher. Das Zementgrau früherer Tage ist freundlichen Farben gewichen. In den Vorgärten wuchsen früher Küchenkräuter und manchmal auch ein paar Blumen, meistens Rosen. Heute finden sich dort Pflanzen aus aller Herren Länder, sog. Exoten. Die meisten Hofflächen sind gepflastert. Einige Scheunen wurden zu Wohnhäusern und/oder Garagen umgebaut.

Der typische Dorfgeruch fehlt: Die Misthaufen sind nicht mehr da, und die Jauche fließt auch nicht mehr in die sogenannte „Kulang", die Regenrinne. Ich vermisse die Hühner, die in den Misthaufen scharrten. Oft genug waren sie Anlass für Streit in der Nachbarschaft, vor allem bei Fütterungen. Hausnamen schießen mir durch den Kopf. Aber meistens ist das nur noch Erinnerung. Die Menschen, die diese Namen trugen, leben nicht mehr. Ihre Häuser werden von Fremden bewohnt, oft nur an Wochenenden. Die nachfolgende Generation hat sich am Ortsrand angesiedelt und dort neue Häuser gebaut. Viele ortsnahe Flächen, bis dahin als Gärten oder Wiesen genutzt, wurden zu Bauland. In dem Maße, wie Einheimische ihre alten Häuser aufgaben, zogen Fremde ein. Nur in Einzelfällen haben sie sich in die Dorfgemeinschaft integriert.

Altes Backhaus in Neunkirchen

Mein Weg führt am alten Backhaus vorbei. Aber gebacken wird hier schon lange nicht mehr. Meine Mutter hat hier noch Brot gebacken. Irgendwann kam ein fahrender Bäcker ins Dorf. Für einen Zentner Getreide gab es soundsoviele Brote, je nachdem, ob man Roggen, Weizen, Gerste oder Hafer als Gegenleistung ablieferte. Das sparte den Müller und das Backen. Tante-Emma-Läden und später die Supermärkte lösten ihrerseits wieder den fahrenden Bäcker ab. Und dabei ist es geblieben. An der Außenwand unseres Nachbarn steht immer noch eine Bank. Aber es ist nicht mehr die Bank, die ich aus meiner Kindheit kannte. Ich vermisse sie. Hier traf sich früher Jung und Alt. Tagsüber saßen die Alten auf der Bank und erzählten sich immer wieder dieselben Geschichten. Abends nahm die Jugend sie in Beschlag. Meistens heckten, insbesondere die Jungs, neue Streiche aus. Mädchen wurden selten auf der Bank gesichtet. Die alte Bank könnte einiges erzählen, wenn sie noch da wäre - und reden könnte. Die Kirche steht noch im Dorf, farbenfroher als zu meiner Kindheit. Abends wird sie neuerdings angestrahlt. Nähert man sich dem Dorf von Süden, abends oder nachts, taucht aus dem Dunkel die hell erleuchtete Kirche auf. Ein wunderschöner Anblick. Die Glocken rufen wie eh und je zum Gebet oder vermelden es, wenn jemand gestorben ist. Zweimal erklingen sie, wenn eine Frau gestorben ist und dreimal für einen Mann. Das ist so geblieben. Im Inneren wurde die Kirche in wesentlichen Teilen stark verändert. Der damalige Pfarrer ließ Hochaltar, Kanzel, Kommunionbank und Gestühl herausreißen. Wunderschöne Schnitzereien sind dadurch unwiderruflich verloren gegangen. Der Mittelgang verschwand und wurde durch zwei Seitengänge ersetzt. Die Kirche wird immer noch als Ort des Gebetes und der Begegnung genutzt, jedoch seltener als noch vor Jahren. Seit Jahrzehnten ist das Pfarrhaus vermietet, die Pfarrscheune verwaist. Im Pfarrgarten weiden Pferde. Der alte Friedhof rund um die Kirche wurde aufgegeben und durch einen neuen ersetzt. Der letzte Dorfpfarrer starb bei der Ausübung seines Dienstes am Altar nach einem Herzinfarkt. Danach wurde die Pfarrstelle nicht mehr besetzt und die Pfarrei Neunkirchen mit Daun zusammengelegt.

Die Schule, besser gesagt: das Gebäude, steht auch noch. Sie wurde 1914 am Rande des Dorfes errichtet. Drumherum war viel Platz für Kinder. Das brauchte es auch, denn zu ihren „Glanzzeiten" lernten bis zu 80 Kinder vom ersten bis zum achten Schuljahr im einzigen Klassenraum. Eine Meisterleistung des Lehrers, alle Kinder gleichzeitig sinnvoll zu beschäftigen. Im Sommer wurde der Unterricht teilweise unter schattige Linden auf dem Schulhof nach außen verlegt. Als der Geburtenrückgang Anfang der Sechziger einsetzte, bauten die Nachbargemeinden Neunkirchen und Steinborn eine gemeinsame Schule. Die Grundschule Neunkirchen-Steinborn ist längst einer anderen Nutzung zugeführt worden. Jetzt ist dort der Kindergarten untergebracht. Heute ist Neunkirchen ein Stadtteil von Daun. Aber der Ort hat sich seinen Dorfcharakter bewahrt. Das Wort von den Vorstädtern hören wir nicht gerne. Der Bürgermeister wurde zum Ortsvorsteher. Und der Gemeinderat heißt jetzt Ortsbeirat. Der Gemeinderat war autonom; seine Beschlüsse waren bindend. Heute sind die Beschlüsse des Ortsbeirates oft nur Empfehlungen an den Stadtrat, jedenfalls immer dann, wenn es ums Geld geht. Auch darin drückt sich der Wandel aus, den das Dorf in den vergangenen Jahrzehnten durchgemacht hat. Aber nirgendwo ist er so offensichtlich, wie in der Landwirtschaft.

Ältestes Haus in Neunkirchen, erbaut 1636, Aufnahme von 1919

In meiner Kindheit und Jugend betrieben die meisten Dorfbewohner Landwirtschaft. Während der Morgen mit dem Krähen der Hähne eingeläutet wurde, erklang allabendlich, vor allem im Sommer, das Dengeln der Sensen.

Das älteste Haus Neunkirchens heute

Am frühen Morgen, solange das Gras noch feucht vom Tau war, wurden die Wiesen mit der Sense gemäht. Wer es sich leisten konnte, schaffte eine Mähmaschine an, die von einem Kuh-, Ochsen- oder Pferdegespann gezogen wurde. Die Mähmaschinen wurden dann von Traktoren mit Mähwerk abgelöst. Derzeit werden schwere Traktoren mit Kreiselmähern eingesetzt. Auch die schwere und schweißtreibende Handarbeit bei der Heuernte mit Rechen und Heugabel wurde mittlerweile von Maschinen übernommen. Geerntet wird das Heu in riesigen Ballen. Ähnlich ging es bei der Getreideernte zu. Die Felder wurden mit dem sogenannten „Haferkorb", einer Sense mit spezieller Halterung, gemäht. Die Ähren wurden per Hand aufgesammelt und zu Garben gebunden und aufgestellt. Bevor die Dreschmaschine erfunden war, wurde die Drescharbeit mit sogenannten Dreschflegeln erledigt. Die Getreidegarben wurden in der Scheune auf dem Tennenboden im Kreis ausgelegt. Die Drescher standen mit ihren Flegeln außen drumherum Der Takt der Flegel klang irgendwie nach Musik. Die schwere Arbeit mit den Dreschflegeln wurde durch die Dreschmaschine abgelöst, wobei die ganze Nachbarschaft wie selbstverständlich geholfen hat. Aber das ist auch schon wieder Geschichte. Maschinen haben auch hier Einzug gehalten. Die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen sind durch eine zweite Flurbereinigung größer und damit wirtschaftlicher geworden. Trotzdem gibt es viele Brachen. Besonders im Spätsommer wird das offensichtlich. Ringsherum gemähte grüne Flächen und mittendrin ein brauner Fleck, die Brache. Sie ist überwuchert mit Disteln und dem giftigen Jakobskreuzkraut. Weil nicht gemäht wird, vergrößert sich die Brache von Jahr zu Jahr. Ebenso sind viele Berufszweige aus dem Ort verschwunden. Zuerst traf es den Stellmacher, danach den Hufschmied und den Müller samt seiner Mühle. Auch der Dorfmetzger musste das Schlachtbeil aus der Hand legen. Das Quieken der Schweine, die ihren letzten Atemzug aushauchten, bevor sie erschossen wurden, verstummte. Aber es gibt auch Veränderungen, die man hören kann. Da ist z.B. der Dialekt. Es wird nur noch von erwachsenen Einheimischen gesprochen. Die Kinder unterhalten sich auf Hochdeutsch. Früher lernte man es in der Schule. Der Pfarrer predigte ebenfalls in dieser Sprache. Wenn man „aufs Amt" musste, gemeint ist das Bürgermeister- oder Landratsamt, hatte man sich auf Hochdeutsche einzustellen. So mancher hat das vorher geübt. In wenigen Jahren wird der Dialekt ausgestorben sein. Bisher hat Neunkirchen die Veränderungen gut gemeistert. Es gibt kaum leerstehende Häuser. Die Gemeinschaft ist intakt. Dafür sorgen unter anderem die Vereine, deren Veranstaltungen immer noch reichlich Zuspruch finden. Aber die Bewährungsprobe kommt noch! Für die Jugend sind kaum ausreichend Ausbildungs- und Arbeitsplätze in der näheren Umgebung verfügbar. Sie kehrt dem Dorf den Rücken. In einigen Jahren, wenn die jetzige Generation ausgestorben sein wird, werden viele Häuser zum Verkauf stehen. Wer soll sie bewohnen? Eine Frage, die der Einzelne nicht lösen kann. Und die noch intakte Gemeinschaft auch nicht. Die Politik ist am Zuge! Das Problem ist erkannt. Zaghafte Lösungsansätze gibt es bereits. Am Ende meines gedanklichen Rundgangs frage ich mich: Was hat sich denn nicht verändert? Die vier Dorfbrunnen fallen mir ein. Die Standorte sind immer noch dieselben. Nur die Nutzung ist eine andere. Als Kind habe ich oft und gerne am Brunnen gespielt. Im Sommer haben wir Wasserschlachten veranstaltet. Die Tiere nutzten die Brunnen als Tränke. Im Sommer boten die Brunnen, wenn man wollte, eine erfrischende Dusche. In Herbst und Winter wurden die Rüben in den Trögen gewaschen. Das liegt alles schon weit zurück. Die Brunnen plätschern ohne erkennbaren Nutzen vor sich hin. „Kein Trinkwasser" steht da. Aber die Kinder spielen immer noch gerne da.