Ich hatte viel Glück im Leben

Als polnischer Zwangsarbeiter in Lothringen, im Hunsrück und im Lager Pelm

Heinrich Ferleyko, Emmerod

1926 wurde ich in Lemberg geboren. Bis 1918 gehörte Lemberg zu Österreich- Ungarn. Danach wurde es polnisch und hieß Lwow. Heute gehört es zur Westukraine und heißt Lwiw. Zu Beginn des Krieges lebte ich bei meiner Großmutter in Przemysl, das heute in Polen nahe der ukrainischen Grenze liegt. Als die deutschen Soldaten 1941 einmarschierten, wurden wir Jungen - ich war gerade 15 Jahre alt - im Dorf zusammengetrieben und in das Sammellager Przemysl transportiert. Ich hab' immer gesagt: „Ich bin aus der Ukraine", weil man dann besser behandelt wurde. Die Ukraine hatte sich auf die Seite von Deutschland geschlagen gegen die Russen. Dafür kamen die Ukrainer nach dem Krieg nach Sibirien. Die Frauen waren in einem anderen Lager untergebracht. Nach drei Wochen hat man uns in zwei Gruppen aufgeteilt: die kleinen und schwachen Burschen sollten in die Landwirtschaft, wozu ich gehörte, und die kräftigen wurden fürs Bergwerk bestimmt. Man pferchte uns in Viehwaggons, die abgeschlossen wurden. Nach einer Woche Fahrt erreichten wir den Bahnhof von Machern bei Wich in Lothringen, heute Maiziere les Vic. Das liegt zwischen Metz und Saarburg/Lothringen (Sarrebourg).

v.l.n.r. Bürgermeister Zaeper, Doris Gierden, Heinrich Ferleyko, Wolfgang Merkelbach

Man verteilte uns auf die umliegenden Bauernhöfe, die früher mal Franzosen gehört hatten, jetzt aber von Deutschen bewirtschaftet wurden. Die französischen Besitzer hatte man vertrieben. Manche der neuen Besitzer verstanden gar nichts von der Landwirtschaft. Morgens um sechs Uhr begann unsere Arbeit: Stall ausmisten, mit der Karre den Mist transportieren usw. Wir haben alles gemacht und konnten uns nicht beklagen, denn wir hatten genug zu essen. Nach Feierabend durften wir uns frei bewegen, mussten aber um 22 Uhr zurück sein. Als wir einmal zu spät vom Tanzen kamen, mussten wir zur Strafe sonntags das ganze Haus putzen. Alle Polen mussten ein P auf ihrer Kleidung tragen. Das brauchte ich ja nicht, weil ich behauptete, aus der Ukraine zu sein.

Er wurde einfach aufgehängt

Nach der Landung der Alliierten in der Nor-mandie haben uns die deutschen Soldaten aus Lothringen in Richtung Deutschland mitgenommen. Wir sind zu Fuß marschiert, von Volkssturmmännern bewacht, zuerst bis Saarburg und dann nach Trier. Übernachtet haben wir in Kuhställen oder Schweineställen. Wir stanken nachher alle nach Schwein. Endlich in Trier angekommen, erlebten wir den ersten Fliegeralarm. Alle Mann ab in irgendeinen Keller! Die Keller waren gefüllt mit Frauen, alten Leuten und Kindern; die einen haben Zeitung gelesen, andere haben geweint oder gebetet. Man hat gezittert, weil man nicht wusste, wo die Bomben runterkamen. Von Trier aus ging es zu Fuß weiter in Richtung Bernkastel. Wir wollten aber nicht mehr in Ställen übernachten. Wir haben uns lieber draußen hingelegt und mit dem Mantel zugedeckt, auch wenn es nachts schon sehr kalt war. Morgens waren wir weiß vom Frost. Wir waren eine Kolonne von 300 bis 400 Polen und Russen. Unterwegs haben wir vor Hunger um Brot gebettelt. Dazu kamen ständig Fliegerangriffe. Mehrere von uns wurden verwundet. Endlich in Bernkastel angelangt, wurden wir auf einem Platz aufgestellt und von den Bauern, die uns als Arbeiter brauchten, wie auf dem Viehmarkt ausgesucht. Ich kam nach Götzeroth im Hunsrück in eine Bauersfamilie. Weil der Sohn im Krieg war, freute sich der alte Bauer über meine Hilfe. Wenn man seine Arbeit machte und den Mund hielt, hatte man nicht zu klagen. Die Leute besaßen sechs Kühe, einige Kälber, Rinder und Schweine. Am Wochenende hatte man frei. Als ich einmal nach Longkamp wanderte, geriet ich in einen starken Regen. Ich wurde patschnass und nahm deshalb die Abkürzung über die Schmitzensmühle. Im Schuppen habe ich mich dort versteckt. Der alte Müller hatte es aber bemerkt und holte mich ins Haus, damit ich meine Sachen trocknen konnte. Seitdem bin ich oft abends nach acht Uhr und auch sonntags in die Mühle, um dem alten Mann zu helfen. Ich bekam zu essen und machte meine Arbeit gut. Das gefiel dem Müller, und mir gefiel besonders seine hübsche Tochter. Das durfte natürlich niemand bemerken. Uns polnischen Jungen war jeder Kontakt mit deutschen Mädchen streng verboten. Einmal wurden wir sonntags alle im Wald zusammengerufen und mussten zusehen, wie ein polnischer Zwangsarbeiter, der ein Verhältnis mit einem Mädchen angefangen hatte, aufgehängt wurde. Das Mädchen war schwanger. Ihm wurden die Haare abgeschnitten, und der Junge musste hängen. Man ließ uns an dem Gehängten vorbeimarschieren, um uns abzuschrecken. Hätte das Mädchen gesagt, es war einer von den Soldaten, da waren ja genug überall, hätte es den Jungen retten können.

Im Lager Pelm

Als die Front näher kam, wurden wir alle eingesammelt. Der Opa bedauerte, dass ich weg musste. Ein Kollege von mir ist abgehauen und hat sich im Tal des Lonkamper Baches versteckt. Wir marschierten nach Bernkastel und von dort ging es mit der Bahn bis Wittlich. Wir wären lieber zu Fuß gelaufen, weil wir Angst vor Fliegerangriffen hatten. Von Wittlich aus ging es zu Fuß weiter in die Eifel. So kam ich in das Pelmer Gefangenenlager. Tagsüber mussten wir am Waldrand schanzen und Artilleriestellungen ausbauen. Schlimm war die Kälte draußen. Vor den Fliegern hatten wir am meisten Angst. Wir konnten nicht verstehen, dass auf uns geschossen wurde. Wir waren doch keine Soldaten, sondern Zwangsarbeiter. Die machten aber keinen Unterschied. Vor der Lagerhalle war ein großer Kump, in dem wir uns morgens um sechs waschen mussten - bei der Winterkälte! Das Lager war eingezäunt. Es wurde von dem Volkssturmmann, der uns aus dem Hunsrück nach Pelm gebracht hatte, bewacht. Hinter dem Eingangstor führte ein breiter Gang, breit genug für ein Auto, durch die große Baracke. Rechts und links davon befanden sich die Pritschen, jeweils drei übereinander. Ich schätze, dass ungefähr 200 Leute hier untergebracht waren. Zu essen erhielten wir morgens Brot und Malzkaffee. Anschließend marschierten wir unter Bewachung eines Soldaten oder Volkssturmmannes von Pelm zum Schanzen. Abends fuhr ein Auto mit Suppenkessel am Lager vor. Der Wagen setzte rückwärts zum Eingang und wir traten nacheinander mit unserem Essgeschirr heran, um einen Schlag Suppe abzuholen. Schließlich wurde das Pelmer Lager Anfang 45 wegen der Frontnähe auch geräumt.

Im Stall war's schön warm

Der Fußmarsch der Gefangenen und Zwangsarbeiter ging von Pelm in Richtung Daun. Abends wurden wir in einer Schule eingesperrt. Unsere Wachposten vom Volkssturm, die uns schon von Monzelfeld im Hunsrück an begleiteten, verriegelten die Türen und übernachteten in den Häusern nebenan. Die Fenster waren mit Eisengittern gesichert. Einer von uns versuchte die Gitter zu lockern und hatte tatsächlich Erfolg damit. Zu viert sind wir abgehauen. Unser Anführer war älter als wir. Der hatte in der Nähe beim Bauern gearbeitet und kannte sich aus. Wir mieden auf unserm Weg die Dörfer und gingen durch Wald- und Wiesengelände. Kurz vor Daun verabschiedete er sich von uns: „Jetzt macht jeder, was er will." Am frühen Morgen sind wir durch Daun marschiert. Vor einem Haus standen Soldaten mit höherem Rang. Wenn wir jetzt weggelaufen wären, hätten wir uns ja verraten. Also sind wir mutig weitermarschiert, haben geredet und gegrüßt, so, als ob wir gerade zur Arbeit gingen. Wir hatten ja Arbeitsklamotten an. Von Daun aus wanderten wir Richtung Manderscheid. Gegen Abend erkundigten wir uns, ob die Kirche offen sei. Wir hatten vor, dort die Nacht zu verbringen. „Da sind Soldaten drin", hieß es. Also machten wir uns weiter auf den Weg und fragten einen alten Bauern: „Wo kann man hier schlafen?" Der Mann hatte Mitleid mit uns und nahm uns mit in seinen Stall. Dort bei den Kälbchen war es wunderbar warm.

Die schöne Müllerstochter

Viele Soldaten liefen ziellos herum, weil ihre Kompanien sich aufgelöst hatten. Die kümmerten sich nicht um uns. Wir mussten uns aber vor der Militärpolizei, den Kettenhunden, in Acht nehmen. Die hätten uns doch gleich erschossen. Am nächsten Morgen trennten wir uns; jeder sollte auf eigene Kappe versuchen, sich durchzuschlagen. Mein Ziel war die Schmitzensmühle am Longkamper Bach, um mich dort zu verstecken. Also bin ich alleine weiter marschiert in Richtung Bernkastel. Ich kam auch gut über die Moselbrücke und gelangte schließlich bis zur Mühle, die weit weg vom Dorf im Bachtal liegt. Ich erzählte der Müllersfamilie, dass ich vom Lager Pelm käme. Das Lager sei bombardiert worden, und jeder habe sich retten sollen. Die Familie hat mir geglaubt und mich versteckt. Nach Kriegsende wollte ich nicht in die Heimat zurück, weil ich gehört hatte, dass die Russen die Heimkehrer als Kollaborateure und Spione nach Sibirien verschleppen. Ich durfte in der Mühle bleiben. Die schöne Müllerstochter, Maria Schmitz, die mir gleich so gefallen hatte, habe ich geheiratet und wurde Vater von drei Kindern und Großvater von sechs Enkelkindern. Mein Enkel Thomas hat die Landwirtschaft, die zur Mühle gehörte, übernommen. Alle kümmern sich liebevoll um mich, besonders seit dem Tod meiner lieben Frau. Seit einigen Jahren fahren meine Enkelkinder regelmäßig mit mir in meine polnische Heimat.

Danke mein guter Schutzengel

Vor ein paar Jahren lernte ich Doris Gierden kennen, die ihre Mutter in Longkamp besuchte. Als sie mir erzählte, dass sie in einem Dorf bei Daun wohne, kamen mir alle Erinnerungen an die Kriegszeit wieder hoch. Ich sagte ihr, dass ich gerne noch einmal Pelm besuchen möchte. Daraufhin nahm Doris mit dem Pelmer Bürgermeister Kontakt auf, der wiederum Thea und Wolfgang Merkelbach bat, sich um mich zu kümmern. Alle drei organisierten für mich ein Treffen in Pelm, worüber ich mich sehr gefreut habe. Ich wurde von Bürgermeister Zaeper begrüßt. Theo Betzler aus Pelm zeigte mir, wo das Lager gewesen war. Er konnte sich noch genau daran erinnern. Ich weiß noch, dass der Bach neben dem Lager (Henkersbach) damals immer Hochwasser hatte. Bei meinem Besuch war ich erstaunt, dass kein Wasser mehr floss. Als ich am Henkersbach stand, kamen alle Erinnerungen wieder hoch.

Wir besuchten auch zwei Pelmer Familien, mit denen wir über das Lager und die letzten Kriegsmonate reden konnten. Für mich ein Höhepunkt war auch der Besuch der Kasselburg, die wir damals vom Lager aus nur von unten sehen konnten.

Doris und die beiden haben mich auch in meiner Mühle in Longkamp besucht, und so ist eine nette Freundschaft entstanden. Für meine Arbeit als Zwangsarbeiter erhielt ich vor ein paar Jahren als Wiedergutmachung 1.275 DM Entschädigung. Ich bin sehr zufrieden mit meinem Schicksal; anderen ist es nicht so gut ergangen.

Ich hatte viel Glück in meinem Leben; aber noch viel mehr verdanke ich meinem guten Schutzengel.