Wiedergutmachung

Annemie Clemens-Monzel, Mürlenbach

Ich wurde im Dezember 1949 in Mürlenbach geboren. Meine Eltern waren fleißige Bauers-leut. Ich hatte noch drei Geschwister. Ab 1958 kamen Gästezimmer hinzu, die das Familieneinkommen erheblich verbesserten. Unsere Mutter war eine tolerante offene Frau. Dagegen war Vater sehr konservativ und runzelte öfters die Stirn, wenn wir der Mutter heikle Fragen stellten. Ich war ein sehr wissbegieriges Kind. Wenn sich Erwachsene unterhielten, wurde ich ganz leise und meine „Rhabarberohren" immer größer. Eines Tages hatte ich eine Unterhaltung mitbekommen über Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft und über die Schikanen von Zwangsarbeiterinnen der Deutschen Bahn an den Gleisen zwischen Kyllburg und Gerolstein.

Eine Wärterin war vom Altenhof. Kurz nach Kriegsende kam sie auf mysteriöse Weise ums Leben. Diese Unterhaltung beschäftigte mich einige Tage. Jetzt wollte ich mehr von Mutter wissen. Sie erzählte mir dann ihre erlebte Geschichte.

Es war im Winter 1943/44

Als Kriegerfrau hatte ich ein Brennholzlos am Steinisch Berg zugewiesen bekommen. Es war ein milder Winter. Am Morgen nach der Stallarbeit packte ich meinen Rucksack mit Broten und die Feldflasche mit heißem Pfefferminztee und ging mit Säge und Axt zum Holzmachen. Es gesellten sich zwei junge Polen zu mir und halfen mir. Sie waren noch fast Kinder. Ich gab ihnen meine Brote und meinen Tee. Einer von ihnen konnte gut Deutsch sprechen und ich erfuhr, dass sie Zwangsarbeiter am Hof Steinisch waren. Sie erzählten mir von ihrem Leid, von der Verschleppung und von ihrem Heimweh. Sie hatten nichts mehr von ihren Familien gehört. Ihr Leben auf Hof Steinisch spielte sich in der Futterküche ab, ihr Schlafgemach war ein Bretterverschlag auf dem Heuboden. Es war Vorschrift im Hitlerregime, dass Zwangsarbeiter nicht in der Familie aufgenommen werden durften. Die meisten Bauern störten sich nicht daran und nahmen ihre Zwangsarbeiter in der Familie auf.

In den nächsten Tagen, wenn ich in den Wald ging, kochte Großmutter Eintopf mit reichlichen Fleischeinlagen für meine Jungs. Im Herbst war ja Hausschlachtung. Dann zog ich mit doppeltem Henkeltopf und Broten den Steinisch hoch. Im Frühjahr 1945 kamen die Amerikaner und die Jungs waren verschwunden.

Ich lernte Hebamme und ließ mich im Kylltal und Umgebung als freie Hebamme nieder. 1990 kam auf Hof Steinisch das vierte Kind des Verwalterehepaares zur Welt. Hof Steinisch war 1960 verkauft worden und wurde von einem Verwalterehepaar bewirtschaftet. 1980 war die Fertigstellung eines modernen Stalles mit Heuboden. Im Wohnhaus wurde es eng. Der junge Vater entschied sich, über dem ehemaligen, angrenzenden Heuboden Wohnfläche anzubauen. An einem Vormittag - ich war bei der Wochenpflege - kam Vater Stefan mit einer polnischen Bibel und einer Pistole ins Schlafzimmer. Er war ganz aufgeregt und zeigte seiner Frau und mir Bibel und Pistole. Diese beiden Dinge waren hinter einer Bretterwand versteckt. Es war beiden ein Rätsel, wo diese Dinge herkamen.

Ich konnte sie beruhigen und erzählte ihnen Mutters wahre Geschichte. Es kamen die Jahre der Wiedergutmachung, auch an ehemaligen Zwangsarbeitern. Sie sollten auch etwas vom deutschen Staat bekommen. An einem Wochenende las ich das Verbandsgemeindeblatt. Die Ortspolizeibehörde Gerolstein suchte Personen, die sich noch an Zwangsarbeiter auf einer Anhöhe von Mürlenbach-Weißenseifen erinnern konnten.

Ich dachte wieder an Mutters wahre Geschichte. Auch mein Erlebnis als Hebamme auf dem Hof Steinisch wurde wieder wach. Am Montag griff ich zum Telefon und sprach mit dem Sachbearbeiter über meine Erlebnisse. Die direkten Nachkommen von Hof Steinisch waren verstorben und in meiner Generation herrschte meist großes Schweigen über diese schreckliche Zeit.

Der Sachbearbeiter der Verbandsgemeinde nahm alles überzeugend an und freute sich, alte Männer in Polen etwas zu entschädigen.