Der Schellenmann

Maria Ferdinand, Neroth

Ich bin im Jahre 1922 geboren. Technische Geräte wie Radio, Fernsehen oder Telefon kannte man damals noch nicht. Heute kann man sich das gar nicht mehr vorstellen, aber man kannte es ja nicht anders, war zufrieden und machte das Beste daraus. So war es für uns Kinder eine besonders große Freude, wenn wir den Klang der Dorfschelle hörten. Ja, dann wussten wir, der Gemeindediener ist unterwegs und verkündet wieder eine Neuigkeit oder eine Anordnung vom Gerolsteiner Bürgermeisteramt oder vom hiesigen Ortsvorsteher an. Falls wir nicht in der Schule waren und das Geschelle vernahmen, war dies ein Signal für uns. Wir liefen dann alle zusammen und folgten dem Mann durch das ganze Dorf. An mehreren Stellen im Ort ließ er seine Schelle ertönen, laut und kräftig, so dass jeder es hören musste und alle Bürger im Umkreis sich um ihn versammelt hatten oder in der Haustüre standen.

Jeder lauschte seiner Bekanntmachung, denn es war meistens eine wichtige Mitteilung. So mussten in dieser Zeit noch Frondienste für die Gemeinde geleistet werden. Wurden diese von den Einwohnern nicht ausgeführt, mussten sie bezahlen, und das war oft ein hoher Betrag. Die Feldwege um unser Dorf, die von einer großen Wasserrinne umgrenzt waren und von Gestrüpp und Wurzeln überwuchert waren, mussten gesäubert werden, denn jeder Anlieger war bedacht, dass seine Felder nicht überflutet wurden und somit seine Ernte nicht zugrunde ging.

So nahm der Gemeindediener seine Schelle in die Hand und verkündete beim Treffen an Ort und Stelle die vorgesehene Arbeit. Jeder Grundbesitzer bekam dann, je nach Größe seiner Felder, seine Meter angewiesen. Er war die rechte Hand des Ortsbürgermeisters und kontrollierte die Ausführung dieser Arbeiten mit. Man sah ihn des Öfteren diese Wegestriche abgehen und tat wie üblich seine Pflicht. Manchmal griff er auch selbst zur Harke. Im Winter war der Gemeindediener besonders viel unterwegs. Dann hörte man sein Geschelle fast jeden Tag. Da man damals noch keinen Schneepflug kannte, mussten wir Einwohner die Straßen der Nerother Gemarkung von Schnee freihalten. Dann erklang seine Stimme: B e k a n n t m a c h u n g ! Heute muss aus jedem Haus eine Person (mit Uhrzeit) am Kesselberg zum Schneeschippen erscheinen. Oft lag der Schnee wie eine Mauer, meterhoch am Straßenrand. Uns Jugendlichen machte das natürlich Spaß, denn unter uns entstanden oft spaßige Schneeballschlachten oder wir Mädchen wurden oft von den Jungen mit Schnee „gewaschen". Mit geröteten Wangen kehrten wir dann nach Hause und freuten uns schon auf das nächste Treffen. Die Versteigerung des Gemeindeholzes wurde auch durch die Schelle angekündigt. Dieses war vorher von den hiesigen Waldarbeitern gehauen und zu Kubikmetern zusammengestapelt worden. Dieses Treffen fand immer abwechselnd in einem Nerother Gemeindehaus statt. Die Männer freuten sich darauf und mancher sah auf dem Nachhauseweg seine Frau schon doppelt. Das war und gehörte zur Tradition und war ja nur einmal im Jahr, und die Frauen hatten sich damit abgefunden. Der Schellenmann bekam in späteren Jahren den Posten des Feldhüters noch dazu. So musste er auch auf die Obstbäume, die unsere Gemeinde am Straßenrand des Kesselberges angepflanzt hatte, aufpassen. Die Früchte wurden jedes Jahr versteigert, der Erlös floss in die Gemeindekasse. Für uns Kinder war das Obst eine große Versuchung, und wir bedienten uns jedes Jahr reichlich davon. Wenn wir wussten, dass der strenge Herr nicht in der Nähe war, füllten wir unsere Taschen. Wir durften uns nicht erwischen lassen, denn er nahm seine Arbeit sehr genau. Er hatte sogar die Befugnis, Protokolle zu machen. Als er bei seinem täglichen Rundgang seine eigene Frau beim -Streppen- d.h., beim Grasen auf einer fremden Wiese erwischte, machte er auch hier pflichtgemäß keine Ausnahme und machte ihr ein Protokoll. Sie musste diese Strafe bezahlen. Ja, so vieles hat sich seit meiner Kindheit verändert, manches zum Guten aber auch manches zum Schlechten.