Das unbekannte Christkind

Franz Borsch, Zell

Es war im Jahre 1904. Eine Frau aus einem kleinen Eifeldorf lag um die Weihnachtszeit im Kindbett. Sie schenkte am 15. Dezember ihrem achten Kind das Leben. Ihr Ehemann, der Landwirt war und nebenbei noch, um besser rund zu kommen, als Schieferbrecher auf einer Schiefergrube arbeitete, erkrankte etwa zur gleichen Zeit. Eine Lungenentzündung, zur damaligen Zeit noch eine lebensbedrohliche Krankheit, fesselte auch ihn ans Bett. So war also keiner der beiden Elternteile in der Lage, Vorsorge für das bevorstehende Weihnachtsfest zu treffen. Es nahte der Heilige Abend, ohne dass auch nur das Geringste für die kleinen Kinder hätte besorgt werden können. Wie schwer wird es den Eltern wohl gefallen sein, dass in diesem Jahr das Christkind nichts bringen konnte. Besonders schwer war es ihnen, als zu Beginn der Dunkelheit am Heiligen Abend sich die Kleinen wie gewohnt in der Stube versammelten, um betend und singend das Christkind zu erwarten. Leise vor sich hin weinend, werden sie die Stimmen der Kleinen vernommen haben. Wussten sie doch, wie sehr sich jedes der Kinder auf ein Geschenk vom Christkind freute. Die älteste Tochter hatten sie schon eingeweiht. Sie sollte im Krämerladen ein Paar Süßigkeiten einkaufen und damit die bereits aufgestellten Teller füllen. Sie sollte dann den jüngeren Geschwistern klar machen, dass das Christkind in diesem Jahr keine größeren Geschenke bringen würde, weil es ihnen ein paar Tage vorher ja schon ein Schwesterchen gebracht habe und dass dies mehr wäre als jedes noch so große Geschenk. Gewöhnlich ist es so in unseren Dörfern, dass ein Mädchen mit Schleier verkleidet, am Heiligen Abend von den Eltern mit Kindern bestellt wird und das dann die Gaben, die die Eltern bereits erworben und bereitstehen haben, an die Kleinen verteilt. Von den Kleinsten, die kaum sprechen können, ein Gebet oder ein Gedicht aufsagen lässt und, nachdem es gelobt und gebeten hat, im kommenden Jahr genau so brav zu sein, wieder verschwindet. Die Eltern zitterten in ihren Betten, als sie die Stimmen der betenden und singenden Kinder hörten, die nun zu Beginn der Dunkelheit ein leises Schellen vernahmen, das den Ältesten von ihnen als das Schellen vom Christkind noch aus dem vergangenen Jahr in Erinnerung war. Jetzt müsste es zur Tür hereinkommen, aber nichts rührte sich. Die Kinder, nachdem das Klingeln vor der Tür verstummt war, liefen zur Tür, um es zu fragen, weshalb es nicht zu ihnen in die Stube käme.

Aber, was war das denn?

Standen draußen vor der Türe eine ganze Menge Körbe: für jedes Kind ein reichlich gefüllter Korb, sogar schon für das Kleinste, das erst 14 Tage alt war und noch bei seiner Mutter im Bett lag. Die Freude bei den Kindern war riesengroß, und den Eltern liefen Tränen über ihre Wangen. Das unbekannte Christkind hatte in diesem Jahr nicht nur die Kinder, sondern auch ihre Eltern sehr reich beschenkt und ist für immer unbekannt geblieben. Jemand aus dem Dorf muss von der Bedrängnis der Eltern erfahren haben und hat gehandelt, ohne erkannt zu werden. So etwas kann man wohl Weihnachten nennen! Übrigens: Die zu Anfang erwähnte Frau war meine Großmutter und das am 15. Dezember geborene Kind meine Mutter. Von ihr habe ich die Begebenheit erfahren, die sie wiederum von ihren Eltern überliefert bekam.