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Ühm Hanni - Steineberger Musikant

Der blinde Johann Sadler

Alois Mayer, Daun

,Ühm Hanni' hieß in Wirklichkeit Johann Sadler. Und dieser Johann war blind. Mit seinen Augen konnte er nichts sehen, aber mit seinem Herzen sah er vieles. Und diese Herzensaugen haben im Leben von Johann manche Freud, aber noch mehr Leid gesehen. Außer gewissen Erinnerungen bei alten Bürgern existiert nichts mehr von ihm: kein Bild, kein Nachkomme. Es ist so, als sei Johann Sadler gänzlich verschwunden - so wie dereinst sein Dorf, in dem seine Wiege stand.

Allscheid hieß der Geburtsort von Johann. Und dieses Dorf gibt es seit Mitte des letzten Jahrhunderts nicht mehr. Die Not und die Armut waren für dessen Bewohner so groß, dass sie nahezu geschlossen nach Amerika auswanderten.

Der Vater von Johann hieß Michel Sadler und war in Temmels bei Trier geboren. Als Maurergeselle war er auf der Walz und so in die Vulkaneifel gekommen. Dort lernte der 27jährige Mann in Allscheid die ein Jahr jüngere Eva Maus kennen und lieben. Er heiratete sie am 28. März 1848 und zog zu ihr in deren Elternhaus.

Die Ehe wurde mit Kindern gesegnet. Zuerst wurde die Elisabeth geboren und dann, kurz vor Weihnachten, am 16.12.1850, ein Junge. Mächtig stolz waren die Eltern und sie beschlossen, ihn auf den Namen Johann taufen zu lassen.

Schicksalsschlag Nr. 1

Normalerweise wäre der Säugling in Darscheid getauft worden, da Allscheid zu dieser Pfarrkirche gehörte. Aber ausgerechnet jetzt war dort kein Pfarrer. „Dann bringen wir ihn nach Daun in die Nikolauskirche", war daher die einhellige Meinung von Vater, Pate und Patin. Auch einige Nachbarsfrauen waren bereit, mit nach Daun zur Taufe zu gehen. So wickelte man den winzigen Sadlerjungen in ein dickes Kissen, zog sich warm gegen die schneidende Winterkälte an, und dann zog der kleine Trupp den weiten Weg durch den verschneiten Leh-wald hinab nach Daun. Die Taufe war schnell vorüber und der Sadlerjunge mit dem Namen Johann nun ein Gotteskind. Wiederum wurde er ins mollig warme Kissen verpackt und zugedeckt, dass man auch rein gar nichts mehr von ihm sehen und vor allem der kalte Dezemberwind dem Kleinen nicht schaden konnte. Doch zu einer ordentlichen Taufe gehört auch eine ordentliche Tauffeier. Und so lud Vater Michel seine Taufgesellschaft ein in die nächste Wirtschaft. Dort wurde sich gestärkt, und weil man den kleinen Johann auch mehr als einmal hochleben ließ, wurde auch mehr als ein Schnaps auf dessen Wohl getrunken. Und weil es ein gar so kalter Wintertag war, musste auch noch manches zusätzliche Schnäpschen durch die Gurgel, um den weiten Weg als viel wärmer zu empfinden. Der Nachmittag neigte sich langsam zu Ende, und die Allscheider machten sich auf den Nachhauseweg, gut gelaunt und fröhlich. Und lachend und singend kamen sie auch nach Stunden in Allscheid an. Und als man der Mutter im Wochenbett den kleinen Johann zum Stillen reichen wollte, da merkte man erst, dass das große, dicke Kissen leer war. Der Säugling Johann war nicht mehr da. Man hatte ihn, ohne es zu merken, unterwegs verloren. Auf einen Schlag nüchtern und entsetzt, machte man sich auf die Suche. Und dann fand man Johann. Oben im Lehwald, mitten auf dem Weg, mit seinem Gesichtchen im Schnee liegend, kalt und blau. Doch Gott sei Dank, er lebte. Und dennoch war er geschädigt für sein Leben. Johann war auf seinem rechten Auge erblindet. Das schwache Augenlicht des linken Auges verlor er auch noch gänzlich im Alter von vier Jahren.

Johann heiratet Anna

Als Johann zwei Jahre alt war, wanderte das gesamte Dorf Allscheid, bis auf ganz wenige Ausnahmen, nach Amerika aus. Nicht jedoch die Familie Sadler. Die erneut schwangere Frau Eva weigerte sich. Mit Erfolg. Vater Michel verkaufte wohl sein kleines bäuerliches Anwesen und seinen geringen Besitz. Mit der Familie zog er dann nach Steineberg, kaufte sich Land und erbaute sich dort auf dem Hügel ein neues Haus, das seit dieser Zeit den Hausnamen „Hiwwel" (Hügel) trägt. Und dort wurde dann 1853 der nächste Sohn Nikolaus geboren und nach ihm noch weitere vier Kinder. Der blinde Johann besuchte nicht die Volksschule in Steiningen. Eine Sonderschule für Blinde gab es damals noch nicht. So wuchs Johann auf, ohne einen Beruf erlernen zu können, lebte im Haus seiner Eltern und versuchte das Leben so gut zu meistern wie es halt nur ging. Als er volljährig war, schaffte er sich eine Drehorgel an, mit der er durch die Dörfer zog, Musik machte und um Almosen und milde Gaben bettelte.

Im Alter von 34 Jahren lernte er die 25jährige Anna Katharina Frensch kennen, die am 3.4.1859 in Wölferlingen geboren worden war, dann mit ihrer Mutter nach Alflen zog und zuletzt mit ihr in Steineberg wohnte, wo sie als Magd in Stellung war. Johann und Anna Katharina heirateten am 6. Dezember 1884.

Schicksalsschlag Nr. 2

Mit seiner Frau zog der blinde Johann nun musizierend, bettelnd und hausierend durch alle Dörfer der Eifel, ja noch weit darüber hinaus, bis nach Hessen und auf den Hunsrück, am Rhein entlang bis nach Köln. Johann war das Gegenteil von seiner Frau, der „Baas Kätt": ruhig und geduldig, bescheiden und freundlich, zufrieden und leutselig. Manche Launenhaftigkeit seiner Frau ertrug er still und friedlich. Bei den Menschen, die er kannte, war „Hanni" beliebt und ein gern gesehener Gast. Wo er konnte, erzählte er allen seine Lebensgeschichte, erzählte von der Tragik seiner Erblindung und von dem Schicksal, das sein Dorf Allscheid getroffen. Er berichtete von dem tödlichen Unfall, den sein Bruder Peter im Steineberger Wald erlitt, und von dem Heldentod seines 20jährigen Neffen Heinrich in Frankreich.

Die letzten Lebensjahre verbrachten das kinderlos gebliebene Ehepaar in Steineberg und wohnte im Haus Lenarz zur Miete. Anna Katharina Frensch starb am 8. Februar 1931 in Steineberg und „Ühm Hanni" am 16.10.1935 im hohen Alter von 85 Jahren. Beerdigt wurden beide auf dem Friedhof in Demerath. Und wie bei seiner Taufe erlebte der „blinde Drehorgelspieler" Hanni, der zeit seines Lebens keinem etwas zu Leide tat, selbst bei der Beerdigung noch ein Missgeschick. Die Nachbarn hatten sein Grab viel zu eng geschaufelt. Der Sarg wollte nicht hinabgleiten. Erst als einige Trauergäste ins Grab hinabstiegen und die Seitenwände verbreiterten, konnte Johann Sadler endlich zur letzten Ruhe gebettet werden. Er war nun in eine Welt gewandert, in der Blinde sehen, Musik wohlgelitten ist und Heimatlose eine ewige Wohnung haben.