Vor 70 Jahren - kein heiliger Abend

„Nur ich habe überlebt"

Alois Mayer, Daun

Sechsundachtzig Jahre ist er alt. Er sitzt im Wohnzimmer nahe dem gemütlich heizenden Kachelofen. Vor sich auf dem Tisch eine Mappe vergilbter Bilder. Langsam und stockend beginnt Matthias Thull aus Oberstadtfeld zu erzählen: „Nur ich habe überlebt!" Und man spürt, wie die Erinnerung ihn bewegt, wie sie Tränen hervorruft. Dennoch klingen seine Worte hoffnungsstark und voller friedenswollendem Verständnis.

Es war ein Sonntag, mitten im Winter 1944. Eisig kalt war er. Aber eine trockene Kälte, die zu ertragen war. Ein klarblauer Himmel, von dem die helle Wintersonne ihre Strahlen hinab ins Tal der Kleinen Kyll schickte. Ein Sonntag, der Vorfreude aufkommen ließ auf den Heiligen Abend. Es war der 24. Dezember 1944. Der 16-jährige Matthias Thull hatte sein Elternhaus verlassen, das unmittelbar am schmalen Bachufer der Kleinen Kyll stand, und war auf dem Weg zu seinen Freunden. Innerlich aufgeregt und froh, denn heute Abend würde die gesamte Familie das Weihnachtsfest feiern. Ganz gespannt war er schon auf sein Geschenk. Was es wohl sein würde? Mit 16 Jahren konnte man ja nicht mehr so viel erwarten wie die kleineren Geschwister. Und ganz so fröhlich und ausgelassen würde der Heiligabend auch nicht werden können, denn die Eltern waren traurig, hatten sie doch vor zwei Jahren ihren ältesten Sohn Peter mit 21 Jahren in Stalingrad verloren. Besonders die Mutter würde wieder weinen und zusammen mit der Familie vor Peters Soldatenbild den Rosenkranz beten.

Auf der Hauptstraße, die hinauf zur Kirche führt, begegnete Matthias seinem Vater Anton. Der hatte, wie jeden Sonntag, in seinem Elternhaus nahe Verwandte besucht, und war nun auf dem Heimweg. „Dann bis nachher!", sagte er noch. Aber das war das letzte Mal, wo Matthias seinen Vater sah.

Barbara Thull, geb. Zapp, *16.2.1892, Anton Thull, *16.4.1892

Es war gegen 14:40 Uhr. Der winterlich klare Himmel war angefüllt mit dumpfem Gebrumm. Es waren die Motoren vieler alliierter Flugzeuge. Man hatte sich längst daran gewöhnt. Seit Wochen kreisten und überflogen Jagdflugzeuge und schwere Bomber den Ort Oberstadtfeld auf dem Weg nach Osten. Matthias glaubte noch, von Daun her das leise Heulen der Luftschutzsirenen zu hören, als ein mächtiger Pulk schwerer Bomber sich von Wallenborn her dem Dorf näherte. Alle schauten nach oben und sahen mit Schrecken, wie plötzlich das Leitflugzeug „Christbäumchen" setzte, also Leuchtmarkierungen, um den restlichen Fliegern den Weg zu weisen. Und schon sah Matthias Bomben fallen. Fünfzig müssen es gewesen sein, die mit eigenartigem Rauschen und Heulen zu Boden fielen. „Ab in den Keller!" riefen Matthias und seine Freunde und rannten ins erstbeste Haus, um dort Schutz zu suchen. Und dann war da nur mehr Krachen und Bersten, Knallen und Detonieren. Die Erde zitterte, und Luftdruckwellen jagten durch die Gassen. Nach einigen Minuten war der Spuk vorbei. Immer leiser wurden die Motoren der sich entfernenden Flugzeuge. Matthias und seine Kameraden betraten wieder die Dorfstraße. „Da wurden wohl etliche Häuser getroffen!", dachte Matthias, als er dort unten im Dorf schwarzen Rauch und dunklen Qualm aufsteigen sah. Rasch rannte er das Dorf hinab zu seinem Elternhaus. Bewohner kamen ihm entgegen. „Was schauen die mich denn so komisch an?", grübelte Matthias, aber er machte sich keine weiteren Gedanken. Atemlos erreichte er die Straßenkreuzung, wo sein Elternhaus stand. Aber wo war das Haus? Da war kein Haus mehr. Nur mehr ein gewaltiger Schutthaufen, aus dem heraus dunkle hässliche Rauchwolken drangen.

Familie Thull 1938 - Weihnachten 1944 ausgelöscht, vordere Reihe v.l.: Matthias (*14.2.1928; überlebte als einziger); Gertrud (*25.3.1936); Maria (*6.5.1931); Albert (*8.6.1929), hintere v.r.n.l.: Margarethe 1*16.8.1926); Mutter Barbara; Vater Anton; Katharina (*20.9.1922); Peter (*9.2.1921; gefallen in Stalingrad); Susanna (*3.1.1924) auf dem Foto fehlt Anna (*3.2.1925), die an diesem Tag bei ihrer Tante weilte.

Totenzettel Peter Thull ('9.2.1921; f 18.9.1942)

Mindestens zwei Bomben hatten es getroffen. Daneben der zerstörte Stall, der in hellen Flammen stand. Dorfbewohner versuchten ihn zu löschen. Vergebens. Aber es gelang ihnen wenigstens, das Vieh zu retten. Dann sah Matthias eine Frau im fast zugefrorenen Bachbett der kleinen Kyll liegen. Mit ausgebreiteten Armen lag sie da. Sie war tot. Matthias erkannte, es war seine Mutter. Leise erzählt der 86-jährige weiter: „Auf der Straße hielt ein deutscher Militärlastwagen mit laufendem Motor. Soldaten rannten herum. Und auf die Ladefläche hatten sie meinen 15-jährigen Bruder Albert geladen. Kreidebleich und mit schmerzverzerrtem Gesicht schaute er mich an und stöhnte: „Was ist mit den anderen?"

„Denen ist nichts passiert", log ich, wobei ich mich abwenden musste, damit Albert meine Tränen nicht sah. „Nein, es geht ihnen gut!" stammelte ich weiter und dachte tief in meinem Herzen: „Sie sind alle tot und du wirst an deinen Verletzungen auch sterben!" So war es auch. Alberts Unterleib war zerquetscht. Und an diesen schlimmen Verletzungen ist er dann auch tags drauf, genau auf Weihnachten, im Krankenhaus Daun verstorben. Ich bin sicher, Albert und der Himmel werden mir meine verzweifelte Notlüge verziehen haben. 15 Jahre ist er nur alt geworden. Er war ein fröhlicher Junge, der gerade ein Jahr Schreinerlehre in Daun hinter sich hatte. An und für sich gingen Albert und ich stets an freien Arbeitstagen nach dem Mittagessen ins Oberdorf zu unseren Freunden. Doch ausgerechnet nicht an diesem Tag. Da blieb mein Bruder zu Hause, weil er der Nachbarsfrau versprochen hatte, ihr den Weihnachtsbaum in den Ständer zu stellen. Die schrieb sich mit Familiennamen auch Thull, war die Witwe des bereits verstorbenen Vetters meines Vaters. Albert stand gerade draußen auf unserer Haustreppe, als die explodierende Bombe ihm die Haustrümmer auf den Leib warf. Von meinen Eltern und all den anderen Geschwistern habe ich nichts mehr gesehen. Ich wollte sie auch nicht mehr sehen, als sie Stunden später in einer Scheune aufgebahrt worden waren. Ich wollte sie so in Erinnerung halten, wie ich sie noch mittags an jenem Heiligabend gesehen hatte. Mutter beim Zubereiten des Mittagessens, Vater, wie er mir aus seinem Elternhaus kommend begegnet war, und all meine Geschwister, wie sie lachend, fröhlich und voller Lebensfreude im Zimmer waren, Weihnachtslieder und Gedichte übten, denn heute war ja Heiligabend, der Abend, an dem das Christkind kommen sollte!" Es waren nicht die einzigen Opfer, die dieser Angriff forderte. Auch das Nachbarhaus war getroffen. In ihm ließen Peter Josef Thull (* 24.2.1876) und seine Frau Katharina, geb. Ernst aus Gillenfeld (* 12.2.1880) das Leben. Und in der Winkelbachstraße trafen Bomben das Hoffmanns-Haus und zerschmetterten Vater Josef (* 4.4.1912) Mutter Gertrud (* 2.2.1909) und ihre beiden Kleinkinder Gertrud (* 18.10.1936) und Helga (* 23.2.1938). Und es war wie ein Wunder in diesem Chaos - der kleine Wilfried konnte kaum verletzt und als einziger aus dem Trümmerberg geborgen werden. Diesem Angriff fielen weitere vier Personen (Soldaten, Flüchtlinge, Evakuierte) zum Opfer.

Weitere schwere und verheerende Angriffe erlitt Oberstadtfeld in der Nacht und am frühen Morgen zum 6. Januar 1945. Stundenlang kreisten Jagdbomber über dem Dorf, luden ihre tödliche Last ab, schossen mit ihren Bordwaffen auf alles, was sich nur irgendwie bewegte, flogen zurück und kehrten wieder. Sie hinterließen Trümmer und Zerstörungen und forderten den Tod von elf Einwohnern und vier Soldaten.

Der Vollwaise Matthias Thull wurde von seiner Tante in deren Haushalt aufgenommen. Dort blieb er bis zu seiner Ehe. „Onkel und Tante waren sehr gut zu mir. Obwohl sie selber Kinder hatten, waren sie zu mir wie Vater und Mutter! Mit 22 Jahren habe ich dann unser Haus wieder neu aufgebaut. 70 Jahre ist es nun her, aber ich denke noch jedes Jahr an Weihnachten an dieses schreckliche Ereignis," erzählt Matthias, und Tränen des Schmerzes rinnen sein Gesicht herab. Jedoch kündet seine abschließende Meinung Weihnachtliches: „Ja, ich habe allen verziehen. Ich kann den Bomberpiloten und den Alliierten nicht nachtragend sein. Wir haben es ihnen doch vorgemacht!"

Viele Millionen Opfer forderte der Zweite Weltkrieg. Stellvertretend für alle und die insgesamt in Oberstadtfeld umgekommenen 72 Menschen, hier nur die Familie Thull, die an Heiligabend 1944 aus dem Leben gerissen wurde:

Vater Anton, Landwirt, * 16.4.1892; Mutter Barbara, geb. Zapp, * 16.2.1892; Kinder: Katharina, Näherin, * 20.9.1922; Susanna, Hausgehilfin, * 3.1.1924; Anna, Hausgehilfin, * 3.2.1925; Margarethe, Lehrmädchen, *16.8.1926; Albert Johann, Schreinerlehrling, * 8.6.1929; Maria, Schülerin, 6.5.1931; Gertrud, Schülerin, * 25.3.1936.