1534: Der Bote Lentzen aus Mürlenbach erhält ein Hofgut!

Ernst Becker, Mürlenbach

J. Hubert Müller erwähnt in seinem 1932 erschienenen Heft „Heimatgeschichte von Mürlenbach" den Boten des Abtes von Prüm: Lentzen aus Mürlenbach. Dieser habe 1533 auf St. Kilian dem Abt viel Wein gestohlen. Mürlenbach habe damals wahrscheinlich unter kurfürstlicher Gerichtsbarkeit gestanden, denn Lenzen sei nach Merzig inhaftiert und dort gefoltert worden.

Später habe sich das edle Herz des Abtes gerührt und er habe seinem Boten ein Hofgut in Mürlenbach - auf Ropendal (Rübendell) - geschenkt. Die Fundamente des Hofhauses seien noch zu erkennen.

Dieser Kurzgeschichte nachzuspüren, war eine interessante Aufgabe. Was war damals, vor annähernd 500 Jahren, vorgefallen? Wissen ältere Leute noch von dieser Geschichte? Wo genau in der Gemarkung Rübendell stand dieses Hofgut? Sind die Fundamente immer noch zu erkennen?

Meine Recherchen im Ort führten nicht weiter, denn weder von dem Boten Lentzen noch von einem Hofgut auf Ropendal (Rübendell, Riependell) ist noch etwas bekannt. Doch im Landeshauptarchiv Koblenz wurde ich fündig. Hier befinden sich zu dem Fall Lentzen zwei Urkunden, aus den Jahren 1533 und 1534.

Nachstehend ist das Wesentliche hieraus kurz, ohne die umständlichen Floskeln und sprachlichen Weitschweifigkeiten der damaligen Zeit, wiedergegeben. Nach der Lektüre dieser beiden Dokumente erscheint der Fall jedoch in einem ganz anderen Licht als von Müller beschrieben. Anschließend an die Kurzfassungen der beiden Urkunden wird nachstehend versucht, die politischen Verhältnisse in der fraglichen Zeit zwischen dem Kurfürstentum Trier und dem Fürstentum Prüm darzustellen, soweit sie zum Verständnis des Falles Lentzen von Bedeutung sind.

Erste Urkunde

Urfehde Lentzen vom Tage St. Kilian (8. Juli) 1533

Zunächst eine Vorbemerkung: Urfehde bedeutet das eidliche Versprechen, sich wegen eines erlittenen Schadens oder einer Beleidigung nicht zu rächen. Besonders nach Einkerkerung und Folter ließ man die entlassenen Verhafteten schwören, keine Rache zu suchen. „Urfehde bedeutet „Un"fehde - also keine Kampf- oder Kriegshandlungen vorzunehmen - und stammt aus den alten Zeiten des Faustrechtes und der Selbstrache.

Die Urkunde dokumentiert den Eid des „Lentzen Bottens zu Mürlenbach wegen seiner Gefangnuß bei Trier ... und zu Mering." Zunächst ist ausgeführt, der Bote1 habe in Mehring Wein bei nächtlicher Weile „uß den verbottenern genomen und hinweg gefuert". Die Leute des Kurfürsten und Erzbischofs von Trier griffen den Boten Lentzen „sambt denselbigen wynen", nahmen ihn gefangen und verbrachten ihn nach „Palzel" (Pfalzel bei Trier) in Haft. Hier erlitt er „hertigliche" Gefangenschaft, schwere Strafen und grausame Folter. Auf vielfältige Bitten wurde er freigelassen. Und wie seinerzeit üblich, ließ man ihn die Urfehde schwören, um vor seiner Rache sicher zu sein. Lentzen bedankt sich sogar bei dem gnädigsten Herrn von Trier, der aus kurfürstlicher Miltigkeit Gnade zu ihm gewendet und ihn gnädiglich aus dem Gefängnis entlassen hat. Er schwört einen leiblichen Eid zu Gott und den Heiligen, für sich selbst und seine Nachkommen, Freunde und Verwandten, „in gar kyner wyse" Rache zu nehmen für die „gefengknis und was sich darunder verlauffen und begeben hat". Der Eid gilt gegenüber dem Herrn von Trier, seiner Gnaden Nachkommen und Stift, den Amtleuten, Dienern, Untertanen und Verwandten. Sollte er jemals den Eid brechen, solle er ehrlos, treulos und meineidig sein. Zur weiteren Bekräftigung der Urfehde stellt Lentzen zu „rechten, sichern, wahren Bürgen" den Hans Prümer, Schultheiß zu Schweich, und Huprecht, den Meyer zu Mehring. In Ermangelung eigener Siegel der Bürgen hat der „liebe Junckern Dietherichen von Bülich, Amptmann zu Prueme" sein Insiegel an die Niederschrift gehangen. Die Urkunde ist „Geben uff sandt Kilianstag im Jahre unsers Hern Thusent funffhundert dryund dryssig" (8. Juli 1533).

Gemäß der Urkunde wurde die Urfehde „fry willigklich ungedrongen und ungezwongen" geschworen. Das darf man getrost anzweifeln, aber dem armen Lentzen blieb keine andere Wahl, wollte er die Freiheit wiedererlangen.

Zweite Urkunde

Schenkung des Hofgutes Ropendal (4. September 1534)

Der Abt von Prüm und Stablo, Wilhelm von Manderscheid, schenkte seinem Boten Lentzen als Entschädigung für die erlittene Folter und für seine Treue sein Hofgut Ropendal in Mürlenbach.

Aus der Urkunde ergibt sich, dass Lentzen nicht dem Abt Wein gestohlen hat, sondern auf dessen Befehl „drey stuck weins unsers Wastumps von Merinck heym hat sollen brenghen". Dabei war die Frage des Eigentums an dem Mehringer Wein zwischen dem Trierer Kurfürsten und dem Prümer Abt offenbar strittig. Den Wein, den der Abt als sein Wachstum bezeichnete, beanspruchte auch der Kurfürst für sich. Daher wurde „unser lieber besunder Lentz von Morlebach, unser Bott" (wie ihn der Abt in der Urkunde nennt) auf Befehl des Trierer Erzbischofs auf freier Straße gegriffen und gen „pfaltzell" (Pfalzel) geführt. Dort kam er in „schweres" Gefängnis, wurde anderthalb Jahre behalten und in dieser Zeit 6 mal gefoltert („peinlich durch den scharffrichter verforscht und gestreckt, ergentlich dry mal myt schwerem gewicht"). Das Strecken geschah wahrscheinlich durch Aufziehen, wobei dem Folteropfer die Hände auf dem Rücken zusammengebunden wurden und er dann rücklings an den Händen aufgehängt wurde. Um die unsäglichen Schmerzen noch zu steigern, wurden Gewichte an den Füßen befestigt - so auch (drei mal mit schwerem Gewicht) bei dem Boten Lentzen. Das Strecken könnte auch auf einer Streckbank, einem gefürchteten Folterinstrument, erfolgt sein. Es wurde im Zuge der „peinlichen Befragung" zur „Wahrheitsfindung" eingesetzt. Weitere Steigerungen der Folter, um die Schmerzen ins Unermessliche zu steigern, sollen hier nicht beschrieben sein. Ein derart Misshandelter war für seine Lebtage körperlich gezeichnet und geschädigt. In der Schenkungsurkunde ist vermerkt, er (Lentzen) habe die Pein „manlich" erlitten, bei grosser Gefahr für sein Leben. Der Winter (wohl 1532/1533) sei so hart gewesen wie in Menschengedenken nicht. Durch das lange Sitzen zwischen Gefängnismauern sei er in schwere Krankheit verfallen, so dass sein Überleben nur der besonderen Gnade Gottes zu verdanken sei. Zur Vergeltung und aus Dankbarkeit für seine Treue schenkt der Abt seinem Diener Lentzen „zu ewigen tagen leibs erben" den Hof Ropendal, in „morlebacher Hoeffs ban gelegen" (im Gemeindebann Mürlenbach). Der Abt ermahnt seine Nachfolger, obwohl die erbliche Verschreibung geistlicher Güter verboten sei, die Schenkung in ihren Kräften zu belassen. Lentzen und seine Nachkommen haben jährlich „uff sant Steffens taghen in den Weyhenachten hilgen tagen" (das ist St. Stefanstag am 26. Dezember) 3 Rader-Gulden2, je 24 Rader-Albus gerechnet, sowie auf Johann-Baptist-Tag mittsommers (das ist am 24. Juni) einen guten Weidhammel als Erbpacht zu liefern.

Die Urkunde ist gezeichnet durch den Notar „Daniel ffabry de Gerhartsteyn"3.

Die Eheleute Lentzen erhielten den Hof auf Lebenszeit, und nach ihrem Tode solle das älteste Kind, Sohn oder Tochter, Vorsteher des Hofes Ropendal „in ewigen Dagen" sein. In jedem Erbfall war eine Kuh als Kurmut zu geben. Die miterbenden nachgeborenen Geschwister erhalten als Erbteil „gereyden". Gereiden sind bewegliche Güter, wie Möbel Vieh und Geld. Zum Hofgut gehörende Immobilien und Grundstücke mussten als sogenanntes Stockgut ungeteilt bleiben.

Wem gehörte der Mehringer Wein - dem Kurfürsten oder dem Abt von Prüm?

Die Fürstabtei Prüm war sehr reich und hatte ausgedehnten Besitz. Sie war auch Grundherrin des Moselortes Mehring. Der Abt hatte dort ertragreiche Weinlagen. Bereits Abt Ans-bald (860 - 886) hatte mehrere Ländereien und Weinberge in Mehring getauscht, um einen großen zusammenhängenden Weinberg für seine Abtei zu schaffen. Dieser neue Fronweinberg hatte wohl eine hervorragende Lage und erhielt den Wingertflurnamen „Abbate plantate".

Der Wein des Abtes wurde mit Ochsengespannen an der Mosel abgeholt. Im Mürlenbacher Weistum sind im Abschnitt „Anger Wagen" die Weinfuhren von Mehring nach Prüm geregelt.

Die prümischen Höfe Mehring und Schweich lagen mitten in Trierer Gebiet. So verwundert es kaum, dass die Kurfürsten nach deren Besitz strebten.

Mehring - Schweich hatte ein eigenes Hochgericht, das in der Hand des Abtes war, und dem bis Mitte des 14. Jahrhunderts ein prümischer Amtmann vorsaß. Die Trierer verstanden es, die Hochgerichtsbarkeit an sich zu bringen. 1467 kam statt des Abtes der Erzbischof und Kurfürst den beiden Orten gegen einen Freigrafen zu Hilfe und gewährte seinen Schutz. Mit der Annahme dieses Schutzes war ihre Zugehörigkeit zu Prüm dahin. Der Prümer Abt war von allen Seiten bedrängt, der Trierer Erzbischof jedoch war mächtig und hatte den Kaiser auf seiner Seite. Seit 1541 ist der Verlust der Höfe Mehring und Schweich endgültig entschieden. In dem Vertrag der am 14. September 1541 von den Bevollmächtigten des Trierer Erzbischofs Johann Ludwig und des Prümer Abtes Wilhelm auf der Burg Mürlenbach ausgehandelt wurde, werden die beiderseitigen Hoheitsrechte fundiert. In diese Zeit der Auseinandersetzungen zwischen Abt und Erzbischof fällt das von dem Boten Lentzen Erlebte und Erlittene. Er hat die Urfehde am 8. Juli 1533 geschworen, anlässlich seiner Entlassung aus anderthalbjähriger Haft. Die verbotene Wegnahme des „gestohlenen" Weines ist demnach Anfang des Jahres 1532 anzunehmen. Zu dieser Zeit war der Besitz des Hofes Mehring noch zwischen Abt und Erzbischof strittig und rechtlich nicht endgültig entschieden.

Fazit

Nach meiner Einschätzung hat der Erzbischof bereits vor einer endgültigen Regelung die Grundherrschaft in Mehring für sich beansprucht und folgerichtig das Eigentum an dem dort wachsenden Wein behauptet. Der Abt bestand dagegen auf seinen althergebrachten Rechten und hat den Boten Lentzen nach Mehring gesandt, um „drey stuck Weines seines Wachstums heim" (nach Prüm) zu holen. Lentzen hat nun zu nächtlicher Stunde von dem „verbotenen" Wein genommen und wurde dann auf freier Strecke von Leuten des Erzbischofs gefangen genommen. Aus dieser Sicht hat Lentzen also dem Erzbischof von Trier „viel Wein gestohlen" - und nicht seinem Abt! Offenbar handelte Lentzen dabei auf Weisung seines Prümer Herren. Nach der Einkerkerung und Folter auf Veranlassung des Erzbischofs hat der Abt seinem treuen Diener als „Wiedergutmachung" das Hofgut Ropendal geschenkt. Adressat der Urfehde des Boten Lentzen ist daher auch nicht der Abt, sondern der für die Inhaftierung und Folterung verantwortliche Trierer Erzbischof und Kurfürst. Die Existenz des Hofgutes Ropendal (Rübendell) noch um das Jahr 1770 ergibt sich indirekt aus zwei Nachrichten. Erstens aus einer Aufstellung der zum freiadligen Ingelhovener Lehn gehörigen Ländereien von 1771, in der die Lage eines zu dem Lehn gehörenden Grundstückes so beschrieben wird: es „anwend ob die rieppendhäler". Höchstwahrscheinlich waren diese Riepenthäler die Erben oder Nachfolger des Lentzen als Besitzer des Hofgutes. Und in einer Akte von 1776 sind vier Dorfbewohner namentlich genannt, die den Kurfürsten um Bewilligung einer Kohlung von 150 Klaftern „in ihrem unzerteilt besitzenden Erbbüsch" Ruppenthal bitten. Das Wissen um das Hofgut Ropendal (Riependell, Rübendell) oder gar, wo dieses stand und wann es aufgegeben wurde, ist aber im Dunkel der Geschichte versunken.

Anmerkungen:
1 Der „Bote" des Abtes hatte eine hohe Stellung, die nicht der heutigen Wortbedeutung eines Boten als untergeordnete dienstbare Person entspricht. Er war vielmehr in weltlichen Angelegenheiten die rechte Hand des Abtes. Er wurde von diesem ernannt und für seinen Dienst vereidigt. Ihm standen bestimmte Einkünfte aus den Abgaben der Hofbesitzer zu.
2 Radergulden ist eine Münze im Wert von 24 Raderalbus. Seit Ende des 15. Jahrhunderts wurden statt der Goldgulden auch Gulden in Silber geprägt. Der Raderalbus ist eine Silbermünze (Weißpfennig). Der Name kommt von dem eingeprägten (Mainzer Wappen-)Rad. Zum Vergleich der Kaufkraft: Eine Hauptmagd erhielt 1579 einen Jahreslohn von 2 Radergulden. 3 Daniel Fabri aus Gerolstein (damals Gerhartstein genannt) war Priester der Diözese Trier sowie apostolischer und kaiserlicher Notar. Von 1535 bis 1541 war er Pastor von Densborn.