„Die Erde war rot vor Blut!"

I. Weltkrieg: Aus dem Kriegstagebuch des Matthias Michels (1889 - 1944)

Friedbert Wißkirchen, Daun

Der Erste Weltkrieg hat auch in unserer Region viele Spuren hinterlassen. Die zahlreichen Kriegsdenkmäler in fast allen Städten und Orten zeugen davon, dass auch viele Eifela-ner ihr Leben lassen mussten. Im Kreis Daun wurden 1105 Soldaten getötet, 103 vermisst; allein Daun verzeichnete 62 Gefallene und 9 Vermisste, Gerolstein 41 Gefallene. Selbst in so kleinen Orten wie Neroth (26) und Deudesfeld (25) starben 10 % der Einwohner im Krieg. Durch Kriegsverwundungen in nie gekannter Dimension, blieben manche ein Leben lang gezeichnet.

Unteroffizier Matthias Michels

Das Kriegstagebuch

des Unteroffiziers Matthias Michels

Einer, der nur 5 Monate des Krieges - von der Mobilmachung1 bis zur Verwundung - miterlebte, hat in seinem Tagebuch auf 170 Seiten sehr detailliert den Kriegsbeginn, den Vormarsch und den Stellungskrieg in Frankreich geschildert, ergänzt durch selbst gezeichnete Landkarten mit militärischen Details über die Schlachten und Gefechte. Dieses Tagebuch ist ein einmaliges und zugleich erschütterndes Dokument der Zeitgeschichte. Matthias Michels, am 24.10.1889 in Wiesbaum geboren, besuchte zunächst die Volksschule in Wiesbaum, machte in Kornelimünster bei Aachen sein Abitur und absolvierte anschließend am „Königlichen Schullehrerseminar" in Kornelimünster seine Ausbildung zum Volksschullehrer, die er 1910 bestand. 1912 legte er die II. Lehramtsprüfung erfolgreich ab. Nach Ableistung des Militärdienstes kam er als Junglehrer am 1.10.1913 an die Volksschule des kleinen Örtchens Frauenkron2, oberhalb des heutigen Kronenburger Stausees, nahe Stadtkyll, wo er auch unterrichtete, als die Mobilmachung am 1. August 1914 ausgerufen wurde.

Einberufung

Seine Aufzeichnungen beginnen: „Am Nachmittage des Festtags der beiden Apostelfürsten3 brachte der Draht die schauerliche Nachricht von Sarajewo4... und man ahnte schon damals, dass dieser traurige Vorfall wohl zu Konflikten führen könne."

Nach der Mobilmachung wurde die Schule geschlossen und Matthias Michels, der schon gedient5 hatte, machte sich auf den Weg zu benachbarten Kollegen und dem Schulinspektor, um sich zu verabschieden. Anschließend ging er „nach Kronenburg, auf

die Burg, um sich bei ,Burgsmattchen' noch ein Gläschen zu genehmigen." Dort traf er Landsturmmänner6, die ihre Uniformen schon erhalten hatten und voller Stolz trugen. „Vielen merkte man die kriegerische Begeisterung an, einige schienen sehr gedrückter Stimmung zu sein. Ich war Feuer und Flamme, worauf mir einer von weitem zurief: ,Sie meinen auch, der Tod im Felde sei der schönste Tod!'"

Pastor Wiechems in Hallschlag hielt in der Frühmesse am Sonntag für die in den Krieg ziehenden Soldaten eine „flammende" Ansprache: „Es geht gegen Frankreich, das Land des Atheismus, der Gottlosigkeit. Wenn wir besiegt werden, dann ist es aus mit unserem blühenden religiösen Leben. Darum zieht hinaus deutsche Soldaten zum Schutze des Vaterlandes, der wehrlosen Frauen und Kinder. Euer Krieg ist unser Krieg. Gott mit Euch!" Michels gelangte mit dem Zug zur Garnison nach Trier, wo er im Regiment 69, dem III. Bataillon und der 9. Kompanie seinen Dienst begann. Am 6. August 1914 wurde das Regiment nach Luxemburg verlegt. Am 21. August überschritt das Regiment „mit brausendem Hurra" die belgische Grenze.

Erster Einsatz in Belgien und Frankreich

„Schon bald zeigten sich die Spuren des Krieges. Von vielen Häusern standen nur noch die angeschwärzten Mauern."Über Bastogne -Lavacherie ging der Vormarsch schnell weiter. „In Lavacherie sahen wir recht traurige Bilder. Hier und da ließen halb geöffnete Fenster einen Einblick tun. Da saß auf einem Stuhle mit rot geweinten Augen die Mutter. Um sie im Kreise schmiegten sich Kinder, ihr Gesicht vor uns verbergend. Mit traurigen Augen blickten sie auf die Eindringlinge, die ihnen den lieben Vater genommen."...

„Gegen 5 Uhr abends zogen wir in Vresse ein, das an der Semois liegt. Dort bot sich ein herzergreifendes Bild, denn hier starrten noch die weiß glühenden Eisenträger gegen den blauen Himmel, dort schlugen die dunklen Rauchfahnen durch die Dächer, dort brüllte das Vieh in den qualmerfüllten Ställen." Am 26.8., gegen 10 Uhr, überschritten die Deutschen die belgisch-französische Gren-

ze bei Pussemange in Richtung Sedan. Die Schlacht bei Sedan wurde mit großer Härte und Verlusten auf beiden Seiten ausgetragen. General Wellmann, der sein Hauptquartier in einem Schloss aufgeschlagen hatte, „der eben die Meldung niederschrieb, dass die Franzosen überall zurückgeschlagen und der Übergang über die Maas erzwungen sei, rief aus: ,Kinder, ein großer Sieg ist errungen, der Feldzug ist entschieden!' Aber die Gefechte waren noch nicht beendet. Jenseits der Maas wogte die Schlacht hin und her. „Immer noch führte der Feind aus dem Walde, der wie eine Kappe den Bergkegel bedeckte, frische Truppen heran, die von unserer Artillerie unter höllisches Feuer genommen wurden. Der ganze Berg bebte, rauchte und flammte! Aber mit altbewährter deutscher Treue und Tapferkeit wurde der Abhang des Berges und somit das linke Maasufer gehalten, trotz großer Überzahl der Feinde." Nach der Schlacht und Überschreiten der Maas wurde am gegenseitigen Ufer auf einer Wiese im Schein der Abendsonne gelagert und ausgeruht. „Inzwischen hatte die Sonne ihre letzten Strahlen zu uns gesandt, der schwüle Abend der dunklen Nacht den Vortritt gelassen. Nur ein Punkt im dunkelleeren Raum fesselte die Aufmerksamkeit der müden Krieger. Begierig betrachteten die Augenpaare jedes Einzelnen das schauerlich-schöne Schauspiel. Das Licht kämpfte vergebens mit dem Dunkel der Nacht. Immer wieder ergingen von der brennenden Kirche Lichtflammen, immer wieder ergoss sich vom brennenden Dache ein Funkenmeer in den grenzenlosen Nachtschatten, um darin zu verschwinden. Da stieg die Spannung aufs Höchste; das Auge traute sich nicht mehr! Der Turm wankt - nach rechts -nach links - er stürzt zusammen. Ein Klingen - Donnern - Krachen, graue Staubwolken steigen auf. Zischend steigt die Feuersäule!" Die französischen Truppen waren auf dem Rückzug. „Auf den Weiden lagen Hunderte erschossener Kühe. Stark waren sie aufgetrieben und infolge der großen Hitze schnell in Verwesung übergegangen und verbreiteten einen scheußlichen Geruch. Mir wurden 5 verwundete Franzosen anvertraut. - Für die Franzosen habe ich getan, was ich nur tun konnte. Sie haben zu essen und zu trinken bekommen.

Auch habe ich nach vielem Hin- und Herlaufen einen Arzt gefunden, der sie untersuchte und drei nach Sedan überwies. Die beiden anderen schienen bald das Zeitliche segnen zu müssen. Der eine hatte einen Bauchschuss, der andere einen Brustschuss. In der Nacht hatte in den Straßen ein blutiger Reiterkampf getobt. Es sah in den engen Straßen schrecklich aus. Dick aufgedrungene Pferdeleiber lagen umher, die Luft verpestend."

Am 9. 9. ging der Vormarsch von Vouziers aus nach Westen, über Semide weiter nach Somme-Py; der Ort stand in Flammen. Eigentlich war Verpflegung angesagt. Als Michels und seine Kompanie sich der Feldküche näherten, „sausten auch schon blaue Bohnen über unsere Köpfe... Die Seitengewehre wurden aufgepflanzt und mit ,Hurra!' (und leerem Magen) ging es in den nahen Wald. Das Nachtgefecht war sehr interessant. Dieser Tumult, dieses Gebrüll, dieses Geknatter der Gewehre!... Heinrich! (hieß die Parole, weil die Franzosen kein „h" aussprechen können). „Nicht schießen - eigene Truppe!" Nur der Besonnenheit des Kompanieführers verdankte die 9. Kompanie keine Verluste, während andere Einheiten „manch tapferen Mann zu beklagen hatten. Das I. Bataillon ging längs der Straße vor und hatte schreckliche Verluste. Auch unser lieber Hauptmann Bauer ist in jener Nacht gefallen. Am Morgen wurde erst recht klar, was in der Nacht geschehen war. Das Feld war buchstäblich mit Toten besät. Ich kann das Schreckliche nicht schildern; die Toten fanden nicht einmal Platz genug, sie lagen über- und untereinander. Sie waren nicht alle dem feindlichen Blei erlegen", scheinbar auch durch die Kugeln der eigenen Kameraden gestorben, die bei Nacht Freund und Feind nicht unterscheiden konnten. Auf der Straße Chalons - Vitry ging es Richtung Marne und Marnekanal. Morgens um 3 erreichte Michels nach einem Gewaltmarsch von 22 Stunden das Städtchen Vitry.

Schlacht bei Vitry

und eine gefährliche Patrouille

Am Nachmittag des 7. September setzte starkes Artilleriefeuer ein mit hohen deutschen Verlusten, weil sie die Deckungsgräben verlas-

sen hatten. Am folgenden Morgen hielt Regimentskommandeur, Major Praller, eine feurige Ansprache. „Er betonte, dass der heutige Tag den Krieg entscheiden würde. Das Vaterland fordere von jedem von uns das größte Opfer. Es ging wieder nach vorne. Major Praller führte das Bataillon ungedeckt über den Berggipfel. Alsdann marschierten wir zur Straße, wo wir Feuer der schwersten Kaliber bekamen. Im marsch marsch ging es an den Bahndamm. Mächtig funkte die feindliche Artillerie in Gleimes. Der Bahndamm hob und senkte sich. Während wir uns mühsam den steilen Abhang hinauf bemühten, bedachte uns die (eigene) Artillerie mit einigen deutschen Bonbons. Durch Schwenken der aufgerollten Fahne überzeugten wir sie von ihrem Irrtum. Auf dem Gipfel angekommen, mussten wir starke Verluste durch Flankenfeuer beklagen, das anscheinend aus dem tiefer gelegenen Walde kam. Ich bekam vom Leutnant den Auftrag, den Wald aufzuklären. Zur Ermutigung der schweren Aufgabe fügte er noch hinzu: ,Eine schöne Aufgabe um sich auszuzeichnen und das E. K. (Eiserne Kreuz) zu verdienen.' Als ich mit meiner Gruppe bis auf 50 m herangekommen war, erhielten wir Flankenfeuer. Plötzlich befand ich mich in einer heiklen Lage. Halblinks ein französisches Maschinengewehr, halbrechts auf einer Höhe eine Schützenlinie." Im Schutz des Waldes schlugen sich Unteroffizier Michels und seine Männer durch, hatten aber schwere Verluste erlitten. Von der Korporalschaft mit 9 Personen waren nur 3 unverletzt, darunter Michels, 3 verwundet und 3 Kameraden gefallen. „Einer hatte einen Kopf-schuss erhalten, mit dem ich aber noch einige Gebete verrichten konnte. Willig sprach er alles nach. Noch im letzten Augenblick sprach er einen Wunsch aus. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper und ein junges Leben war nicht mehr." Auf das Eiserne Kreuz musste Michels verzichten, denn der Leutnant, der ihn auf Patrouille geschickt hatte, fiel am Nachmittag des gleichen Tages. Matthias Michels und auch seine Kameraden waren der Meinung, dass sie an der Marne eine Niederlage erlitten hatten. Es ging nach Vitry zurück in Richtung Tahure. Südlich Tahure wurde eine neue Stellung

ausgehoben, Schützengräben und Unterstände gebaut. „Es wurde fleißig geschanzt, man suchte in die Erde zu kommen, denn der gestrige Tag hatte uns die Notwendigkeit einer angemessenen Tiefe (der Gräben) vor Augen geführt. Doch bald fing die französische Artillerie an zu toben. Durch einen Volltreffer in den Graben verloren wir 2 Gruppen (18 Mann) und unseren Kompanieführer Bley. Am Abend sollte ich die gefallenen Kameraden feststellen, in dem ich ihnen die Soldbücher und Briefsachen abnahm. Äußerlich waren manche nicht mehr zu erkennen."

„Der 26. September sollte ein blutiger Tag werden. Der Sturm auf die französischen Stellungen bei Le Mesnil ging ohne nennenswerte Verluste glatt von statten. Auf der jenseitigen Höhe schienen die Franzosen ihre Hauptstellung zu haben. Nach damaliger Ansicht schon sehr stark befestigt. Auf 10 m lagen sich die Schützen gegenüber. Viele, viele mussten hier ihr Leben lassen. Leider waren unsere Reihen so stark gelichtet, dass wir den französischen Ansturm nicht parieren konnten. Auch ich erhielt einen Schuss durch die linke Rocktasche, ohne dass Fleisch verletzt wurde. Die Verluste beim Rückzug waren schrecklich."Der deutsche Vormarsch kam an der Marne zum Erliegen.

Der Stellungskrieg

Vom 26 .9. bis zum 11. 11. lag die Kompanie bei Tahure, einem Städtchen an der Dormoise, in der Champagne, lebte in Schützengräben und Unterständen. „In den ersten 4 Wochen haben wir kein Wasser, keinen Ort gesehen. Nachher wurde die Ablösung besser geregelt. Nach 12tägigem Schützengrabenleben kamen wir 6 Tage in vollkommene Ruhe, d. h. militärische Ruhe mit Exerzieren, Schützengrabendienst und „Die Unterstände lagen mehrere Meter tief im Erdboden mit 2 oder 3 Schichten dicken Fichtenstämmen bedeckt, um in etwa bombensicher zu sein. Stroh bildete unsere Lagerstätte. Beim Kerzenschein wurde Skat gekloppt, natürlich nach allen Regeln der Kunst."

Die Skatbrüder aus Ormont, Berk und Hallschlag dachten auch an ihren Skatbruder Michels im Felde. Den Erlös aus den wöchent-

lichen Skatabenden schickten sie in Form von Schokolade und Päckchen an die Front. Auch eine Skatkarte, mit den besten Wünschen für ein erfolgreiches Spiel, durfte nicht fehlen.

Melancholische Gedanken

„Manchmal hatte ich draußen recht wehmütige Gedanken. Als erst die Sonne aufging und ich auf Posten stand, erinnerte ich mich einer Unterrichtsstunde über das Lied: .Morgenrot, Morgenrot, lächelst mir zum frühen Tod!' Ein Soldat auf Posten, die Hand auf das Gewehr gestützt, so träumte er dahin. Der Himmel bildete ein Gefunkel, der Mond inmitten der Sterne. Allmählich erblassen sie, nur noch einer blinkt. Da schweifen seine Gedanken nach der Heimat, zu den Lieben, zu Vater und Mutter, zum Mädchen. Vielleicht schlummern sie noch. Vielleicht schauen auch sie das Sternlein dort droben - es leuchtet in ihr Kämmerlein. Bald gab es vom Herrn sein Morgengebet. Wie mit einem Schleier bedeckt, beginnt der Himmel sich zu färben. Rot - rot - da steigt die Sonne empor. In ein Flammenmeer scheint der Himmel sich zu füllen. Wie in mächtiger Glutball steigt sie höher und höher. Rot - rot - rot. Es schaudert! Blut! Zaudernd richtet er die Frage nach oben. „Morgenrot, Morgenrot, lächelst mir zum frühen Tod!" Zur Besinnlichkeit trug auch das Fest Allerheiligen und Allerseelen bei. Auf dem Friedhof für die Gefallenen traf er auch seinen Lehrerkollegen und Kameraden Hoffmann aus Baasem. Es war die letzte Begegnung; Hoffmann fiel am 4. 12. 1914 bei Langemark.

Flandern - Schlacht bei Langemark7

Am 13. November verließen Michels und seine Kompanie die Champagne, sie wurden der Division Fuchs zugeordnet und mussten bei Nacht und Regen 22 km Fußmarsch zurücklegen, bevor sie in Charlerange ankamen. Bald wurde die 9. Kompanie nach Vysangen und Pelikaan - 40 km vom Ärmelkanal entfernt -verlegt.

„Als wir in Flandern ankamen, hatten daselbst heftige Kämpfe stattgefunden. Die freiwilligen Regimenter hatten unter: .Deutschland, Deutschland über alles...' die französischen Stellungen überrannt, konnten sie aber nicht

halten. Die Toten lagen in den Rübenfeldern verborgen. Es waren Deutsche und Franzosen in erheblicher Zahl. Das Schlachtfeld war sozusagen mit Toten übersät. Auf der Landstraße von Pelikaan nach Langemark ging es in die Stellung. Die Stellung lag zu beiden Seiten der Straße, die der 9. Kompanie rechts der Straße. Wir hatten bei weitem die günstigste Stellung der Division Fuchs. Das Wasser stand V2 m hoch, der Boden war aufgeweicht. Man schlief, stand, schoss über und durch Tote. Schauderhaft! An einzelnen Stellen im Graben lagen die Toten derartig zusammen, dass einem unwillkürlich der Gedanke kam: Hier liegen sie als Schulterwehr. Herzergreifende Bilder waren zu sehen. Dort lag ein Franzose hinter einem dicken Baumstamm, dort lag noch einer im Anschlag, als ihn das tödliche Blei erreichte. An einer Ecke lag ein junger Ehemann. Auch ihn traf die Kugel - da gedachte er (bevor er starb) seines lieben Weibes und Kindes. Aus der Briefmappe nahm er das Bild; ein kleines Kind, 2 Monate alt. Darunter standen die viel sagenden Worte: Vaters Liebling! Daneben lagen Briefe seiner lieben Frau. Noch hatte der Kriegsmann sein liebes Kind nicht gesehen, noch hatte er es herzen und liebkosen können. Ja, der Krieg ist ein rauer Geselle. Mit starker Hand zerreist er die innigsten Bande der Liebe, greift hinein ins Familienleben, trennt Vater und Sohn, Mutter und Kind, Bräutigam und Braut. Er kümmert sich nicht um die Schmerzen der Mütter, er hört nicht das Weinen und Wehklagen der Kleinen."

In die Vogesen - Weihnachten im Viehwaggon - zurück nach Tahure

Am 7. Dezember ging's nach Isegrimm und mit der Bahn weiter über Sedan, Montmedy, Mars la Tour. Am 11. 12. fuhren sie von Chambley nach Metz, am folgenden Tag überquerte die Kompanie den Rhein, Schwarzwald und Vogesen kamen in Sicht, dann war das Ziel Mülhausen8 erreicht. Endlich konnten Michels und seine Kameraden ein Bad nehmen, sich die Haare und Bart schneiden lassen und bekamen Stadturlaub. Besonders gern erinnert sich Michels an den Besuch einer Weihnachtsfeier in einer Mädchenmittelschule in Mülhausen. „Am 19. 12. wurde ich mit einer Gruppe zu

einer Weihnachtsfeier abkommandiert. Wir erlebten herrliche Stunden. Wie gerne hätte ich sie den anderen Kameraden gegönnt."Die Kompanie kam nach Berschweiler und Bollweiler, am Fuße der Vogesen. „Zu Berschweiler hatte ich das Glück, mit Karlchen ein Bett zu teilen, zum ersten Mal in einem Bett - seit Ausbruch des Krieges. Am 23. Dezember war die Kompanie zum Weihnachtsgottesdienst in der Dorfkirche, wo der alte Pastor über die „Feindesliebe" predigte. Die anschließende Weihnachtsfeier der Kompanie, die Verteilung der Weihnachtspost und kleiner Geschenke wurde durch einen Alarm um 22.00 Uhr jäh unterbrochen. „In Bollweiler wurden wir verladen und es ging über Straßburg, Metz, Verdun, Charlerange nach Somme-Py, wo wir am 26. 12. gegen Mittag anlangten. Die Heiligen Abende habe ich also im Viehwagen erlebt. Von Somme-Py ging es dem bekannten Tahure zu und dann zu dem gefürchteten Forsthaus. Die Weihnachtsoffensive hatte begonnen. Mächtig funkte die Artillerie, hier verstummte das Konzert Tag und Nacht nicht. Die Franzosen versuchten fortwährend in unsere Stellungen einzudringen. Am 30. 12. setzten sie wieder an. Soweit das Feld zu übersehen war, starrten die Bajonette in die Höhe. Zum Vorwärtseilen wurde noch ein ,Vater unser' gebetet. Eine kleine Vorbereitung, aber sie genügte, um frischen Mutes dem Schicksal entgegen zu gehen."

Verwundung

„Die 9. Kompanie zog in den Umgehungsgraben. Von einem Laufgraben konnte keine Rede mehr sein. Granatloch an Granatloch oder besser gesagt, Loch an Loch. Dort lagen Tote, Fleischfetzen und Granatsplitter in recht erheblicher Zahl. Die Erde war rot vor Blut! Kaum lagen wir im Umgehungsgraben, so kam auch die für mich bestimmte Sendung9 heran."

„Meine kriegerische Tätigkeit war nun zu Ende, ohne dass ich behaupten könnte, einem Franzosen, einem Belgier, einem weißen oder farbigen Engländer das Lebenslicht ausgeblasen zu haben. Von meiner Verwundung10 habe ich in demselben Augenblick nichts ge-

sehen, gehört und gespürt, bis die Zähne auf die Zunge fielen und das Blut hinunter lief. Mit meinem Gott ausgesöhnt, erwartete ich den Tod. Da gedachte ich auch meines Vaters. Meinen Kameraden trug ich noch auf, meinem Vater zu schreiben, ihm noch viele Grüße zu bestellen und ihm zu sagen, dass ich im letzten Augenblick noch an ihn gedacht hätte. In meinem Tornister lagen noch Briefe und das Tagebuch, alles sollten sie ihm schicken, mit dem letzten Gruße des zu Tode getroffenen Sohnes."

Die Kameraden verbanden seine Wunde provisorisch, mussten weiter und ließen ihn im Graben zurück. „Während ich auf den Tod wartete, kam mir der Gedanke, es könnte doch nicht so schlimm um mich bestellt sein. Ich versuchte weiter nach links zu gehen. Ich torkelte hin und her und kam zur 10. Kompanie. Zwei Kameraden führten mich über freies Feld, wo die Granaten platzten. Natürlich versagten mir bald die Kräfte. ,Lasst mich liegen, ich muss ja doch sterben!' Unbarmherzig

Im Lazarett: Michels 3. v. l. mit Mundbinde und Laute

Rektor M. Michels um 1940

schleppten sie mich weiter. Als wir an den Laufgraben in der Nähe des Waldes kamen, stand dort mein lieber Schug, der mich auf die Schulter nahm und zum Verbandsplatz trug, wo Matthias Gansauer mich neu verbinden half. Dann ging's zum Sanitätswagen. Mit 4 Pferden ging es nur im Schneckentempo voran. Das Feldlazarett lag in der Mitte zwischen Tahure und Somme-Py. Am gleichen Abend wurde ich noch in Lokalanästhesie genäht. Als man die Binden aufhob, konnte ich den Arzt erkennen. Sogleich stellte er mir die Frage, ob ich verheiratet sei, was ich natürlich mit lächelnder Mine verneinte. ,Na, dann machen Sie sich mit dem Gedanken vertraut, dass sie keine mehr mitbekommen!' Ich hatte in diesem Augenblick an andere Dinge zu denken, als mich über diese Taktlosigkeit zu ärgern." Die Vorhersage des Arztes sollte sich nicht bewahrheiten. 1920 heiratete Matthias Michels Margarethe Hoffmann aus Büdesheim.

Am 31. Dezember 1914 wurde Unteroffizier Matthias Michels noch in das Feldlazarett III in Vouziers verlegt. „Gleich nach der Ankunft wurde ich ins Operationszimmer gebracht und die Wunde gereinigt und verbunden. Dazwischen schlug es 12, das alte Jahr war zu Ende, das neue Jahr hatte unter wenig verheißungsvollen Umständen seinen Einzug gehalten... Bald kam der Tag, an dem ich mit aller Liebenswürdigkeit Vouziers den Rücken kehren konnte. Welche eine Freude! Es ging zur Heimat! Es ging nach Haus! Hurra! Hurra! Hurra!"

In mehreren Lazaretten, u. a. in Cannstatt (Stuttgart) und Elberfeld (Wuppertal) wurden die Gesichts- und Kieferverletzungen operiert und behandelt. Ein Urlaubsschein vom 12. Oktober 1917 weist Unteroffizier Matthias Michels noch als aktiven Soldaten bei der 3.Kom-panie des I. Ersatzbataillons im Regiment 69 in Trier aus.

Zum Gedenken

Matthias Michels - weiterer Lebensweg

Ende des Jahres 1917 hatte er wieder seine frühere Stelle als Lehrer in Frauenkron angetreten. 1918 wurde Michels an die Volksschule Stadtkyll versetzt, wo er zum Hauptlehrer befördert wurde. Von 1928 an war er als Lehrer an der St. Anna-Schule in Gerolstein tätig. Später unterrichtete er als Konrektor und als Rektor an der neu errichteten St. Josef-Schule Gerolstein11.

An seiner Wirkungsstätte als Rektor und Lehrer fand er am 24. 12. 1944 im Alter von nur 55 Jahren bei einem Bombenangriff den Tod. Sein Wohnhaus in Gerolstein war durch Bomben zerstört, seine Frau und Kinder nach Leutesdorf am Rhein evakuiert. Michels bewohnte ein Zimmer in der Volksschule. Die Schule war geschlossen und zum Lazarett umfunktioniert. Viele Soldaten wurden dort behandelt und Matthias Michels hatte für die Verwundeten eine kleine Weihnachtsfeier organisiert. Mitten in der Feierstunde gab es Bombenalarm. Die Verwundeten, soweit gehfähig, Sanitäter, Schwestern und Helfer versuchten noch über das Treppenhaus den Keller zu erreichen, als die Bomben einschlugen und viele Menschen an Heiligabend 1944 töteten, darunter auch

Rektor Matthias Michels.

Quellen:

Die Zitate entstammen dem Tagebuch des Matthias Michels „MEINE KRIEGSERLEBNISSE - 1. August - 31. Dezember 1914". Die Bilder und Dokumente sind aus dem Tagebuch oder von der Familie zur Verfügung gestellt worden. Die Zahlen der Gefallenen und Vermissten im Kreis Daun entstammen der Broschüre: „Kriegsgeschehen und Wiederaufbau im Kreise Daun" - 1956 - herausgegeben vom Kreisausschuss Daun.

Anmerkungen:

1 Mobilmachung bedeutet die Vorbereitung der Streitkräfte eines Staates auf den Einsatz, meist für einen Krieg (WIKI-PEDIA)

2 Frauenkron, heute Ortsteil der Gemeinde Dahlem, Krs. Euskirchen

3 Peter und Paul (hoher kirchlicher Feiertag - 29. Juni)

4 Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand von Österreich-Ungarn und seiner Gemahlin Sophie am 28.6.1914 in Sarajewo/Bosnien

5 gedient = hatte seine Militärdienstzeit abgeleistet

6 Landsturmmann - letzte Reserve - die gedienten Soldaten, oft über 40 Jahre alt, wurden noch zum Heimatschutz (z.B. Bewachung von Eisenbahnlinien etc.) eingesetzt

7 Langemark, Westflandern, Belgien - am nördlichen Ortsausgang, liegt der deutsche Soldatenfriedhof von Langemark. Hier befinden sich die Gebeine von 44.324 gefallenen deutschen Soldaten

8 Mülhausen, damals deutsche Stadt - seit 1918: Mulhouse, Elsass/Frankreich

9 „Sendung" - Michels verwendet bei Granatbeschuss oft den Ausdruck „Sendung"

10 Die Verwundung war eine Gesichts- und Oberkieferverletzung durch einen Granatsplitter

11 Die zerstörte Schule wurde nach dem Kriege wieder aufgebaut. Heute ist dort das Mehrgenerationenhaus der Caritas.