Erinnerung an die Diakonisse, Schwester Edmeé Adriany

Gertrud Becker, geb. Clemens, und Wilma Herzog, beide Gerolstein

Der Krieg hielt sie, von ihrem Heimaturlaub aus Jerusalem kommend, wo sie arbeitete, in Gerolstein fest. Und so wohnte sie von 1939 bis 1945 im evangelischen SchwesternErholungsheim, direkt neben der Erlöserkirche. Hier fanden Diakonissen aus zerbombten Städten einige Wochen Erholung in der noch friedlichen Eifel. Meine Familie besaß ganz in der Nähe ihr Haus und einen landwirtschaftlichen Betrieb, aus dem das Schwesternheim beliefert wurde. So kam es, dass mir diese bemerkenswerte Frau auffiel, denn Schwester Edmeé ignorierte mutig alle damals erlassenen strengsten Verbote, sie half allen Menschen, egal ob es Kriegsgefangene waren, oder zur Arbeit verpflichtete Franzosen, Polen oder Russen. Ganz besonders nahm sie sich der Familie Mannsbach an, Gerolsteiner jüdischen Glaubens, die vor ihrem Weg ins Vernichtungslager bereits arge Not litten. Mit ihrer eigenen Lebensmittelkarte sorgte sie für deren Lebensunterhalt. Sie schenkte einem französischen Kriegsgefangenen, Roger Pillot, der in der Nachbarschaft zur Feldarbeit verpflichtet war, spontan eine Bibel. Das imponierte mir. So freundeten wir uns an. Sie kam gerne zu uns, und sie wurde von meiner gesamten Familie hoch geschätzt. Auf dem Gelände des Gerolsteiner Sprudel gab es ein Lager mit weiblichen Gefangenen, elsässische und französische Frauen, die dort zur Arbeit verpflichtet waren. Eine von ihnen war Mme. Dorr aus Nancy. Sie wurde verurteilt, weil sie es gewagt hatte, Landsleute vor der SS zu verstecken. Bei ihrer Festnahme war sie misshandelt worden und davon so krank, dass sie unfähig war die schwere Arbeit zu verrichten. Mme. Dorr kam ins Gerolsteiner Krankenhaus, sie hatte ihr Bett neben dem meiner Mutter, die sich noch nach einer Operation erholte. Trotz Sprachschwierigkeiten entwickelte sich sofort eine Sympathie zwischen den Frauen.

Edmeé an der Erlöserkirche

Bald hatte Madame, wie wir sie nannten, auch meine Schwestern und mich ins Herz geschlossen. Es kam noch besser, denn meine Freundin, S. Edmeé, die ich bei der nächsten Gelegenheit mitnahm, konnte sich mit Madame auf Französisch unterhalten. Ihr war die Freude anzusehen, und das Leid in dieser misslichen Lage in einem fremden Land Zwangsarbeit zu leisten, rückte für die Zeit unserer Besuche in den Hintergrund. Den mehrmaligen Aufforderungen der Aufseherin, die Gefangene endlich wieder in die Fabrik zu entlassen, widersetzte sich Dr. Luy. Er behandelte auch mehrere abgestürzte US amerikanische Flieger. Bald fungierte S. Edmeé auch für diese und für uns alle als Dolmetscherin. Dadurch gerieten sämtliche Beteiligten, besonders aber die Diakonisse selbst und der Chefarzt Dr. Luy in Gefahr. Denn damals konnte niemand vor Verrat sicher sein. Kontakte und darüber hinaus noch freundliche mit Gefangenen waren nicht erlaubt. Keiner von uns, der noch mit ihr gelacht hatte, ahnte, was kurz darauf Mme. Dorr bevorstand, als sie sich erneut einer Operation unterziehen musste. An jenem 19. November 1943, dem Tag der Operation beschlossen, von Unruhe gepackt, Edmeé und ich, sofort ins Krankenhaus zu gehen. Die Operierte war soeben aus der Narkose erwacht. Meine Freundin übersetzte ihre kaum hörbaren Worte: „Hier kommen meine besten Freunde!" Darauf starb sie. Unserem damaligen Pfarrer war strengstens untersagt worden, die Beerdigung von Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeitern zu begleiten, doch er setzte sich über das Verbot hinweg. Unser mutiger Pfarrer, einige französische Gefangene, S. Edmeé und ich bildeten den kleinen Trauerzug, der die Französin auf unseren Sarresdorfer Friedhof begleitete, wo sie nach christlichem Ritus beerdigt wurde. Madame Dorr's letzte Ruhestätte war nie ohne Blumenschmuck. All dies hätte nie sein dürfen. So waren S. Edmeé und ich wie Verschworene, hätte jemand uns verraten, wären wir bestraft worden.

Edmeé mit ihren Schulkindern in Jerusalem

Am 16. Dezember 1944 begann die Ardennen-schlacht, die Front war nun so nahe gerückt, die Bombardierungen nahmen an Intensität so zu, dass das Schwesternheim jetzt fast leer stand. Lediglich S. Edmeé und ihr alter Vater, um den sie so besorgt war, lebten dort. Am 25. Dez. 1944 wurde das Schwesternheim bei einem Angriff zerstört, S. Edmeé und ihr Vater benötigten eine neue Bleibe. Sie erhielten von Pfarrer Bernhard Wiebel die Genehmigung in der Sakristei der Erlöserkirche und in dem darunter liegenden Keller sich eine Art Notwohnung einzurichten. Am 2. Januar erfolgte ein besonders schwerer Bombenangriff, meine Familie hatte in einer der Höhlen der Munter-ley Schutz gesucht, dadurch überlebten wir alle. Bevor wir hinaufstiegen hatte ich mit S. Edmeé abgemacht, dass wir uns abends bei uns daheim treffen würden. Als wir aber beim Dunkelwerden von der Munterley ins Tal kamen, erfasste uns der Schock, denn unsere Gartenstraße war nicht mehr zu erkennen, alles was wir noch am Morgen besaßen, lag jetzt in Trümmern. Dann sahen wir Herrn Adriany über den Trümmerschutt der Straße steigen, als er uns erkannte, hob er verzweifelt die Arme und rief außer sich vor Schmerz: „Helft mir! O helft mir! Sucht mir meine Edmeé!" Sie habe zu ihrem Vater gesagt, sie wolle nach dem Rechten sehen. Sie schaute ja immer nach Brandbomben direkt nach jedem Angriff und warf sie aus den Gebäuden heraus, dorthin, wo sie keinen Schaden mehr anrichten konnten. Aber, kaum dass seine Tochter fort war, seien erneut Bomben gefallen, von denen eine das Pfarrhaus traf. Meine Schwester und ich versuchten den Vater zu trösten und gingen nun selbst auf die Suche. Wir waren auf das Schlimmste gefasst, als wir die Trümmer des Hühnerstalls sahen. Wir fanden S. Edmeé, tot gegen eine Wand gelehnt. Wir waren zutiefst betroffen und standen da wie erstarrt. Wie sollten wir das Herrn Adriany sagen? Es waren keine schweren äußeren Verletzungen sichtbar. Wahrscheinlich hatte der gewaltige Druck der Luftminen sie sofort getötet.

Grabstein von Edemee Adrianyi

Schweren Herzens besorgte meine Schwester eine Decke, da hinein wickelten wir die Tote und trugen sie in die Erlöserkirche, neben den Altar, wo sie dem Herrn als Messnerin so oft gedient hatte.

Herr Pfarrer Wiebel, der mit seiner Familie in Bewingen bei Familie Pawlack Obdach gefunden hatte, wurde sofort benachrichtigt. Er kam so rasch wie möglich, er veranlasste sogleich, dass sechs amerikanische Kriegsgefangene kamen, die ein Grab auf dem Sarresdorfer Friedhof ausheben sollten. Denn bei der zunehmenden Bombardierung war man nicht sicher, ob man den nächsten Tag noch erlebte. Die Erde des Friedhofs war aber so fest gefroren, dass es unmöglich war, auch nur einen Spatenstich zu tun. Da wurde beschlossen, die Verstorbene direkt vor dem Pfarrhaus, in dem großen frischen Bombentrichter zu bestatten. Es gab längst keinen Sarg mehr in Gerolstein. In die Decke gehüllt wurde S. Edmeé in die Erde gelegt. Sie hatte doch immer gehofft, dass sie länger als ihr Vater leben könnte, damit sie ihn bis zuletzt beschützen könne. Nun stand der alte Mann weinend am Grab seiner treuen Tochter. Während in Gerolstein ringsum Rauch aus hell lodernden Trümmern stieg, betete Pfarrer Wiebel mit uns das Gloria in Excelsis Deo und die Amerikaner sagten mit uns: Amen.

Heute, am 17. Juni 2013, beende ich diesen Bericht. Ich bin jetzt 90 Jahre alt, aber es ist alles, als sei es gestern erst gewesen. Ich wurde kürzlich gebeten, das Erlebte endlich aufzuschreiben, es sei wichtig, es ginge sonst auf immer verloren. Es fiel mir schwer, es zu Papier zu bringen, es wurden fünf mit der Hand geschriebene Seiten, die hat Wilma Herzog freundlicherweise nun für mich zu diesem Bericht gestaltet.

Ich muss zugeben, wir haben selbst viel erlitten, aber wir litten auch mit den anderen, oftmals konnten wir überhaupt nicht helfen, das war das Allerschlimmste dabei. Doch haben wir in jener schweren Zeit auch so viel Gutes erfahren.

Von Herzen dankbar bin ich bis heute der edlen Diakonisse, Schwester Edmeé Adriany, gegenüber für ihr christliches Vorbild, das sie uns war und für ihre so wertvolle Freundschaft mit mir.

Im Februar 1945 überließ Pfarrer Bernhard Wiebel im Einvernehmen mit Herrn von Mirbach unserer ausgebombten Familie die Keller der Erlöserkirche und des zerstörten Schwesternhauses, die Garage mit Nebenräumen zur Wohnung, mit der Auflage, die bombenbeschädigte Erlöserkirche mit all ihren wertvollen Einrichtungen und das Gelände zu bewachen und zu umzäunen. Außerdem sollten wir drei Mädchen dreimal am Tage die Glocken läuten. Wir hatten damit endlich wieder ein Dach über dem Kopf und wohnten dort bis 1950.

Trotz bitterer Armut und Zerstörung lebten wir Katholiken in der wohltuend guten und harmonischen Gemeinschaft mit unseren evangelischen Nachbarn. In diesem Jahr wird dieses besondere Bauwerk 100 Jahre alt. Ich wünsche allen, die an diesem großen Fest teilnehmen, viel Freude. Mein Wunsch zum Jubiläum dieser einzigartigen Kirche, die ich oft und gerne gemalt habe, ist, dass sie fortan im Frieden als geweihter Ort christlichen Glaubens ihr Portal für alle geöffnet hält.