Wo die Not am größten...

- Ein tröstlicher Brief - Januar 1915

Markus Göbel, Bleckhausen

Nicht viel erinnert heute noch an meinen Urgroßonkel Joseph Gerhards. Die Menschen, die ihn noch persönlich gekannt haben, sind schon längst gestorben. Vor fast 100 Jahren, am 07.01.1915, starb er in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges. Er wurde nur 22 Jahre alt.

Wie wird er sich wohl gefühlt haben, als er die Aufforderung erhielt, „für den Kaiser" in den Krieg zu ziehen? Es wird berichtet, dass er mit dem Lied „Nun ade du mein lieb Heimatland" zum letzten Mal sein Heimatdorf Hörschhausen gegrüßt haben soll. Ein schmerzlicher Abschied. Von wehenden Fahnen und Kriegsbegeisterung war da nicht viel zu spüren. Seine „Reise" in den Krieg führte ihn wohl vom Utzerather Bahnhof über Trier nach Frankreich. Er war als Musketier im Infanterieregiment 29 eingesetzt, das in Trier stationiert war. Nur wenige Monate nach Kriegsausbruch fiel er nahe des französischen Ortes Tahure, östlich von Reims.

Vor ein paar Jahren habe ich sein Grab in Frankreich besucht. Nur wenig deutet auf die schrecklichen Kämpfe hin, die in dieser Gegend stattgefunden haben. Der Soldatenfriedhof mit seinem Grab liegt friedlich inmitten einer wunderschönen Landschaft. Die Stille und Ruhe, die dieser Ort ausstrahlt, ist bemerkenswert.

Welches Leid aber muss sein Tod damals bei seiner Familie ausgelöst haben? Wie groß muss die Bestürzung und die Trauer gewesen sein?

Der spätere Präsident des ADAC Hans Bretz schrieb damals einen Beileidsbrief an die Mutter meines Urgroßonkels Elisabeth Gerhards. Dieser Brief wird seit fast 100 Jahren in unserer Familie aufbewahrt. Mit Sicherheit hat er damals Trost gespendet. Mit Sicherheit war er ein Zeichen wirklicher Anteilnahme. Hans Bretz, der wie mein Urgroßonkel ebenfalls aus Hörschhausen stammte und mit ihm zusammen die Schule in Katzwinkel besuchte, war 1915 Schüler des Bischöflichen Konviktes in Prüm und wollte Priester werden. Er schrieb:

Verehrte Frau Gerhards, Prüm, den 27.1.15 ... habe gestern von meinem Vater die Nachricht erhalten, daß Ihr Sohn Joseph seinen Wunden erlegen ist. Ich spreche Ihnen hiermit mein herzlichstes Beileid aus. Schwer ist der Schlag, der Sie getroffen hat, und der Verlust Ihres so teuren Sohnes wird Sie sicher in große Trauer versetzen. Aber es kommt eine Zeit, da man vielleicht anders darüber urteilt. Wir müssen da in christlicher Ergebung sprechen.

Herr, nicht mein, sondern Dein Wille geschehe. Der Herr hat es gegeben, der Herr hat' s genommen. Der Name des Herrn sei gebenedeit. Dann wird sich Ihr Schmerz auch lindern bei dem Bewußtsein: Er starb für eine heilige, gerechte Sache, er starb als Märtyrer der christlichen Nächstenliebe, und er hat sicher von Gott dort oben den Kranz der Heiligkeit erhalten. Dort oben steht er unter den Streitern Christi, selbst ein Heiliger. Er ist jetzt aller Mühen und Drangsalen dieses Erdenlebens enthoben, er ist im Lande, wo es keinen Tod, keine Träne und Trauer mehr gibt. Und wenn Ihr so dieses schwere, schwere Opfer bringen mußtet, wird Gott Euch auch mit seiner Gnade weiterhelfen. Denn „Wo die Not am größten, ist Gottes Hilf am nächsten." Zum Schluß verspreche ich Ihnen verehrte Frau Gerhards, seiner in meinem Gebete zu gedenken.

Indem ich Ihnen nochmals mein herzlichstes Beileid ausdrücke, will ich schließen.

Mit vielen Grüßen

Ihr Johann Bretz

Vielleicht wurde der Brief wegen seiner christlichen Zuversicht und Gottergebenheit in unserer Familie aufbewahrt und wie ein kleiner Schatz gehütet. Vielleicht aber auch, um die Erinnerung an einen 22 jährigen Menschen wach zu halten, der sein Leben noch vor sich hatte und in einen sinnlosen Krieg ziehen musste, aus dem er nicht wieder zurück kam. 100 Jahre nach Ausbruch des 1. Weltkrieges wird überall auf der Welt an die vielen Opfer gedacht, die dieser Krieg forderte. Wenn ich heute den Beileidsbrief von Hans Bretz in den Händen halte, so denke ich an meinen Urgroßonkel Joseph Gerhards. Er war eines der vielen Opfer.

Dieser Brief, ein Foto und ein Totenzettel sind heute die einzigen greifbaren Dinge, die an ihn erinnern. Nicht viel, aber vielleicht dennoch genug, um zu verstehen, dass Frieden eine zerbrechliche Sache und keine Selbstverständlichkeit ist.

Literatur:
Ferber, Franz Josef: Wie's daheim war, Kinder- und Jugendjahre im Eifeldorf, Aachen 1995.
Verbandsgemeinde Kelberg (Hrsg): Chronik der Kriegstoten und Vermißten der beiden Weltkriege 1914-18 und 1939-45 aus der Pfarrei Uess, Koblenz 1983.