Der Kampf ums tägliche Brot

Mathilde Gros, Eltville

Nach dem Krieg verlor Vater seine Arbeit, wir waren also ohne Einkommen. Da kam ihm die Idee, daheim alte Hüte aufzuarbeiten, um wenigsten ein bisschen Geld zu verdienen. Damals trug man noch Hut, um korrekt angezogen sein. Durch seinen Dienst als Vollzugsbeamter kannte er viele Leute in den Dörfern um Gerolstein, wo er - trotz seiner „Kuckuckskleberei" - meist gut gelitten war, denn die Einsicht war doch da, dass er damit nur seine Pflicht tat.

Seine Idee mit den Hüten wurde ein Hit. Die Damen- und Herrenhüte aus Filz oder Stroh wurden wieder adrett und formgerecht, und mit ihren frisch gebügelten Bändern sahen sie wie neu aus, wenn er sie ihren Besitzern ablieferte, und das sprach sich rasch herum. Zwar verdiente er pro Kopfbedeckung nur ein paar Mark, aber dafür lief er sich auch seine Schuhsohlen und Absätze auf den weiten Wegen zu den Kunden schnell ab, erst fürs Abholen, dann für das Abliefern eine Woche später. Auch wenn die Schusterrechnung von seinem Verdienst abgezogen werden musste, seine neue Dienstleistung florierte richtig gut. Doch irgendwann waren alle Kopfbedeckungen aufgearbeitet. Trotzdem musste täglich Nahrung auf den Tisch. Eine neue Einkommensquelle musste gefunden werden. Als im Vorratsschrank gähnende Leere herrschte, sagte Mutter: „Ich weiß keinen anderen Ausweg mehr, ich muss nach Bodenbach!" Das war ihr Heimatdorf, dort lebten noch Verwandte. Noch verkehrten keine Züge. Also ging sie die 28 km zu Fuß. Als sie, schmal wie sie geworden war, das erste Mal bei den Verwandten erschien, empfing man sie mit großer Herzlichkeit. Die Angehörigen beschenkten sie reichlich: Brot, Butter, Schinken, sogar mit einem Stück Fleisch vom frisch geschlachteten Schwein. Nachdem meine Mutter die Nacht dort verbracht hatte, trat sie schwerbepackt den langen Heimweg an. Müde und abgespannt, doch mit leuchtenden Augen, legte sie daheim den schweren Rucksack auf den Tisch. Unsere Augen glänzten heller mit jedem Lebensmittelschatz, den sie auspackte.

„Und jetzt könnt ihr euch alle mal so richtig satt essen!" sagte sie und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Das ließen mein Bruder und ich uns nicht zweimal sagen. Welch herrliches Gefühl, endlich wieder richtig satt zu sein! Weil von den Kostbarkeiten danach nur wenig übrig blieb, plagte mich das Gewissen. Dafür, dass wir uns einmal satt essen durften, war Mutter fast 60 km zu Fuß gelaufen und auf dem Rückweg noch mit der schweren Last. Als wieder nichts Essbares mehr im Haus war, machte Mutter sich hoffnungsvoll erneut auf den Weg nach Bodenbach. Diesmal war alles ganz anders. Hatte man ihr beim ersten Mal noch alles geschenkt, sollte sie jetzt mit Waren dafür bezahlen. Tauschhandel hieß das. Denn sie war nicht die einzige, die zum „Hamstern" nach Bodenbach kam. Vor allem die Städter brachten wertvolle Tauschobjekte mit, feinstes Porzellan, Teppiche, Tafelsilber -für Mehl und Butter oder anderes Fett. Mutter musste sich etwas einfallen lassen, damit ihr nächster Weg nicht wieder umsonst, und ihr „Hamstern" erfolgreich wurde. Sie nähte eifrig daheim aus alten Anzügen Kindersachen, aus getragenen Hemden Kinderkleidchen und Taschentücher. Das wurde gerne genommen, und sie kehrte zwar müde aber glücklich mit Fett, Mehl und Kartoffeln nach Hause. Für ihren nächsten Gang nach Bodenbach sollte sie eine hübsche Damenbluse Größe 38 mitbringen. Danach war gefragt worden. Sie hat zwar noch etwas Vorkriegs-Nähgarn aber keinen Stoff. Jetzt muss irgendetwas dran glauben! Dafür durchsucht sie die vorhandene Kleidung. Ihre Wahl fällt auf Vaters bestes Hemd. Zuerst fertigt sie ein Schnittmuster aus Zeitungspapier an. Nur damit kann sie sehen, bevor sie es zerschneidet, ob auch ausreichend Stoff für alle Blusenteile vorhanden ist. Es reicht! Da kommt ihr sofort das Stück Speck in den Sinn, dass sie dafür heimbringen wird. Endlich könnte sie ihrer Familie wieder Bratkartoffel mit Speck zubereiten! Dafür schiebt sie ihre Gewissensbisse weit in den Hintergrund, als sie die Schere in Bewegung setzt.

Jetzt gibt es kein Zurück mehr, die Bluse muss gelingen! Zwei Nachmittage näht sie mit größter Sorgfalt daran, verputzt alle Nähte säuberlich von innen, jedes Knopfloch ist exakt per Hand gemacht. Jetzt fehlen noch die 5 Knöpfe! Sie schaut nach, wo sie am ehesten Knöpfe entbehren kann. Denkt wieder an den Speck, kann seinen nahrhaften Duft fast riechen, da trennt sie kurzerhand von ihrem blauen Sommerkleid die 5 Perlmuttknöpfe ab. Mit dem eisernen Plätteisen, auf der Herdplatte heiß gemacht, prüft sie die ideale Temperatur, indem ihr Zeigefinger, an der Zunge angefeuchtet, kurz die Sohle des Eisens berührt. Alles stimmt. Zufrieden bügelt sie ihr Werk, eine feine Damen-Hemdbluse aus Vorkriegsstoff, mit echten Perlmuttknöpfen. Wunderschön ist sie, wie aus dem Geschäft! In Bodenbach wird sie erfolgreicher als erhofft. Nur weil zwei Schwestern sich für das Prachtstück Hemdbluse interessieren. So wird das erhoffte Speckstück noch größer, das sie dafür erhält. Dazu gibt es auch noch den Rucksack voll Kartoffeln. Anderentags begibt sie sich glücklich auf den Rückweg. Die daheim werden Augen machen! Sicher will jeder erst mal ein winziges Stückchen Speck kosten. Sie wird sich nicht ausruhen, sondern sofort Kartoffeln schrubben und dämpfen. Danach schneidet sie sorgfältig die Speckscheiben ab und gibt sie in die große Eisenpfanne... Mit diesen frohen Vorstellungen erscheint ihr der Heimweg viel kürzer, trotz der Last auf ihrem Rücken. Schon liegt Pelm hinter ihr. Nur ein kleines Stück weiter, da bei den Chausseebäumen, wird sie ihr Haus links oben am Wiesenhang erblicken. Ob die Kinder am Fenster stehen? Während sie schaut, gewahrt sie den Uniformierten, der ihr plötzlich entgegen schreitet. Aus welchem Versteck? Für Mutter gibt's kein Entrinnen! Sie fasst sich ein Herz, um mit Unschuldsmiene an ihm vorbei zu gehen. „Halt! Nicht so schnell, junge Frau! Sie stellen erst den Rucksack hin und öffnen ihn!"

Er beschlagnahmt alles! Mutters Herz rast vor Zorn, Enttäuschung und all der vergeblichen Anstrengung.

Hamstern und Warentausch sind eben verboten! Traurig kommt Mutter heim, schaut uns an, hebt wortlos ihre Hände.

Wir verstehen. Umsonst opferte Vater sein bestes Hemd, nähte sie die hübsche Bluse, unternahm den weiten Fußmarsch. Wir umarmen unsere gute Mutter, mein Bruder sagt leise: „Wie gut, Mutter, dass dir unterwegs nichts passiert ist und dass du wieder bei uns bist!" Es waren schwere Notjahre. Wir aber haben sie dank unserer guten erfindungsreichen und fleißigen Eltern überleben können.