Begegnung

Brigitta Westhäusler, Hillesheim

Wie immer war ich abgehetzt. „Verdammt! Hättest du nicht eine Viertelstunde früher aufbrechen können?", schalt ich mich selbst. Ziemlich außer Atem erreichte ich Bahnsteig 6, wo der D-Zug schon abfahrtbereit stand. Der Schaffner warf bereits die Türen zu, seine Kelle einsatzbereit unter dem linken Arm. Vorwurfsvoll blickte er mich an und verfolgte mein Einsteigmanöver. Mit einem lauten Peng schloss er die Tür hinter mir, und schon hielt er die Kelle hoch. Ein Pfiff ertönte, und mit einem heftigen Ruck zog der Zug an. Gerade so konnte ich mich noch festhalten, aber die Reisetasche prallte heftig gegen mein rechtes Knie. Ein kurzer Schmerzenslaut entrang sich meinen Lippen. „Auch das noch", murmelte ich vor mich hin. Ich schob mich an den Abteiltüren entlang und blickte meist in vollbesetzte Kompartiments. „Es wird doch wohl noch einen Sitzplatz für mich geben", dachte ich. Eine längere Strecke draußen im Gang stehen zu müssen, war nicht nach meinem Geschmack. Endlich, ganz am Ende des Waggons fand ich ein Abteil, in dem eine junge Frau saß. „Gestatten Sie?", fragte ich höflich. „Ist hier noch frei?" Sie hatte aus dem Fenster geblickt und drehte nun ihr Gesicht zu mir. Zwei sehr dunkelbraune Augen erforschten mein Gesicht, so kam es mir vor, dann nickte sie zustimmend, und ich hörte ein leises „Ja, bitte". Es dauerte etwas, bis ich meine Reisetasche auf dem Gepäckträger verstaut, meine Windjacke aufgehängt und schließlich Platz genommen hatte. Ich atmete tief durch. Ich schaute ein wenig aus dem Fenster und ließ die Landschaft an mir vorüberziehen. Zum Glück war es ein sonniger Tag, und das Blau des Himmels und die verschiedenen Grüntöne gaukelten eine perfekte Welt vor. So könnte es immer weiter gehen, alles an sich vorüber ziehen lassen, ein ewiges Blau, ein ewiges Band von Wiesen, Feldern und Wäldern, auf und ab......Ein raschelndes Geräusch holte mich aus meinem kurzen Dämmerzustand zurück. Jetzt erst wagte ich, mein Gegenüber etwas genauer zu betrachten. Sie hatte eine Tafel Schokolade aus ihrer Tasche genommen, hatte geschickt Papier-und Stanniolhülle geöffnet und zwei Rippen abgebrochen und bot mir nun von ihrer Köstlichkeit an. „Möchten Sie vielleicht?", fragte sie mit ihrer leisen Stimme und lächelte mich zaghaft an. Der Schokoladenduft war unwiderstehlich, und so griff ich zu. „Vielen Dank", hörte ich mich sagen. „Das ist sehr freundlich von Ihnen." Ich brach mein Stück noch einmal durch und stopfte die beiden Teile rasch hintereinander in meinen Mund. Die samtige Masse breitete sich schnell in meinem Gaumen aus und umschloss meine Zähne. Einfach unglaublich gut! Ich schloss sogar kurz meine Augen, um besser genießen zu können. Als ich sie wieder öffnete, schaute ich in ihre dunklen Augen, die mich die ganze Zeit beobachtet zu haben schienen. Irgendwie fühlte ich mich ertappt. Wieso? Meine Hände hielt ich immer noch in der Schwebe, so als wüsste ich nicht, wohin mit ihnen. Leichte Schokoladenrückstände konnte ich erkennen und überlegte gerade, wie ich diese am besten entfernte, als sie mir wortlos ein Papiertaschentuch hinhielt. Ich spürte, wie ich leicht errötete, während sich auf ihrem Gesicht ein Lächeln breitmachte. „Lacht sie mich etwa aus?", fuhr es mir durch den Sinn. „Diese Sorte ist sehr cremig", begann sie nun zu sprechen und versuchte zu erklären: „Der NougatAnteil ist sehr hoch und darum schmilzt sie so schnell. Aber es ist meine Lieblingssorte und ich bin süchtig danach. Ich freue mich, dass sie Ihnen geschmeckt hat." Eine leichte Röte überflog nun ihre Wangen, während sie mich leicht musterte. „Ja, wunderbar", antwortete ich. „Ich wähle normalerweise eine Sorte mit Nüssen; aber die krümeln dann so im Mund und die Zunge muss dann Putzarbeiten verrichten." Wir schauten uns beide an und begannen zu lachen.

Jetzt erst bemerkte ich, dass sie ihre Schokoladenrippe noch gar nicht gegessen hatte. Sie teilte sie in vier kleine Stücke, die sie genüsslich nach und nach verspeiste. Ich beobachtete sie fasziniert und dabei überlegte ich, wer sie wohl sei, wohin sie wohl führe, was sie wohl arbeitete. Sie mochte Anfang zwanzig sein und machte einen unscheinbaren Eindruck auf den ersten Blick. Ihre Augen waren es, die den Betrachter fesselten, denn sie waren von einem tiefen Braun, fast schwarz, und man glaubte, in unendliche Tiefen zu blicken. Ihre kecke Stupsnase und ein kleiner voller Mund schienen der Wirkung der Augen zu widersprechen. Sie hielt mir die Schokolade noch einmal hin, damit ich mir noch ein Stück nehmen sollte, aber ich lehnte höflichst ab. Ich wollte nicht ihr süßes Vergnügen minimieren. Nachdem sie alles wieder weggepackt hatte, sprang sie leichtfüßig auf, öffnete die Schiebetür und sagte: "Bin gleich wieder zurück." Sie war schlank und größer als man zunächst annehmen konnte. Sie trug einen grauen Glockenrock und darüber eine einfache weiße Bluse mit langen Ärmeln, deren Manschetten sie Zeichnung: Kerstin Weinacht, Kerpen umgeschlagen hatte. Etwas ungewöhnlich für eine junge Dame, da die meisten dieses Alters schon Jeans trugen. "Aber vielleicht hatte sie einen wichtigen Termin", überlegte ich mir. An den Füßen erkannte ich Ballerinas, wie man diese flachen Schuhe wohl nennt. Die dunklen Haare waren im Pagenschnitt getrimmt und wippten beim Gehen leicht hin und her. Irgendwie erinnerte sie mich an jemanden. Aber obwohl ich mehrere Frauengestalten vor meinem inneren Auge Revue passieren ließ, konnte ich keine Zuordnung treffen. „Ein bisschen wie Audrey Hep-burn?", fragte ich mich. „ Nein, doch nicht! Wieso machte ich mir überhaupt Gedanken?" Ich stand auf und suchte in der Innentasche meiner Windjacke nach meinem Buch, das ich mir am Tag zuvor besorgt hatte. Wenn ich lange Strecken mit der Bahn unterwegs bin, liebe ich nichts mehr als ein Maigret von Simenon. Die haben immer genau die richtige Länge und garantieren die richtige Spannung. Ich begann zu lesen, und schon tauchte ich ein in die französische Metropole und sah vor meinem geistigen Auge den berühmten Kommissar und seine Leute in ihrem Büro an der Seine. Mir war gar nicht bewusst, wie viel Zeit vergangen war, als sich die Abteiltür wieder öffnete und sie eintrat und in ihrer Ecke wieder Platz nahm. Sie sah zu mir herüber und las den Titel meines Buches. „Oh, sind Sie auch ein Liebhaber von Simenon?", fragte sie überrascht und zog aus ihrer Handtasche ein Buch. Sie drehte den Titel zu mir und ich las: „Maigret et......." „Das ist doch nicht möglich", rief ich erstaunt und setzte mich steil auf. „Sie haben das gleiche Buch dabei wie ich! Nur auf Französisch!" Sprachlos geworden starrte ich sie an und bemerkte, dass sie errötete. „Oh, Entschuldigung! Ich wollte sie nicht in Verlegenheit bringen", stotterte ich und lehnte mich wieder zurück. „Ich studiere Französisch; die Sprache hat mich schon immer fasziniert", bemühte sie sich zu erklären. „Natürlich kenne ich die großen Namen und ihre Werke, oft schwer genug! Aber zum Ausgleich beschäftige ich mich gerne mit Simenon. Er schreibt in einer prägnanten Sprache, aber mehr noch interessieren mich seine Charaktere. Unglaublich, wie er die Psyche von Tätern und Opfern analysiert, wie er in das Umfeld eintaucht." Ich lauschte ihren Ausführungen und bemerkte, wie sie sich beim Reden veränderte. Ihre Augen bekamen einen besonderen Glanz und ihre ganze Haltung zeigte, dass sie überzeugt war von dem, was sie sagte. Sie klang geradezu begeistert. Einige Sekunden war es still im Abteil. „Mir geht es genauso", erwiderte ich. „Auch seine Nicht-Maigret-Romane zeugen von einem außergewöhnlichen psychologischen Interesse. Und das alles in einer quasi Alltagssprache. Ich bewundere ihn sehr. Ich studiere übrigens Jura, und die juristische Seite der Kriminalfälle fasziniert mich ebenfalls." Wir schauten uns beide tief in die Augen und schwiegen. Jeder hielt sein Buch in der Hand, und für einen Moment schien die Zeit still zu stehen. Nur das gleichmäßige Rollen der Räder war zu vernehmen. Das Öffnen der Tür und das Wort „Fahrscheinkontrolle" unterbrach den magischen Augenblick. Es dauerte etwas, bis wir in die Gegenwart zurückfanden. Ich nestelte aus meiner Jackentasche das erforderliche Billett, während sie in ihrer Handtasche suchte. Der Schaffner erfüllte geschäftsmäßig seine Aufgabe und warf uns dann noch einen leicht amüsierten Blick zu. Freundlich wünschte er uns eine gute Reise. Aber die Stimmung von zuvor war verflogen. Eine unsichtbare Wand hatte sich irgendwie zwischen uns geschoben. Wir nickten einander lächelnd zu, und jeder las scheinbar konzentriert in seinem Buch. Aber ich merkte, dass die Buchstaben und die daraus entstehenden Wörter keinen richtigen Sinn ergaben. Meine Gedanken wandten sich ihr zu, kreisten um sie. Nach Freiburg musste sie, hatte ich durch den Schaffner erfahren. Wie sie dort wohl lebte? Ich warf ihr heimlich einen Blick zu und merkte, dass sie tatsächlich in den Text vertieft war. Eine steile Falte hatte sich zwischen ihren Brauen gebildet. Ich blickte wieder in meinen Text. „Soll ich sie noch einmal ansprechen?", ging es mir durch den Sinn, aber irgendwie fand ich nicht den Mut. Ich schaute auf meine Uhr und dann aus dem Fenster. Ich näherte mich meinem Ziel. Ich stand also auf und hievte meine Tasche herunter. Mein Buch steckte ich in die Seitentasche und griff nach meiner Windjacke. Ich zog sie nicht an, denn es war ziemlich warm geworden. „Sie steigen hier schon aus?", bemerkte sie in einem fragenden Ton. Klang da ein leichtes Bedauern mit? „Ja, wir sind gleich in Mainz. Ich stelle mich schon mal an die Tür, bevor es das große Gedränge gibt." Unbeweglich blieb ich stehen und wusste nicht, was ich machen sollte. „Übrigens, ich heiße Johannes", hörte ich mich sagen. Langsam stand sie auf und schaute mir in die Augen. „Und ich bin Johanna", antwortete sie. Wir reichten uns die Hände, dann verließ ich schnell das Abteil. (Nach einer wahren Begebenheit) Nachwort: Johannes hat später versucht, Johanna ausfindig zu machen, aber er hat sie nie mehr wiedergefunden. Es war die Zeit, als es noch keine Computer und keine Handys in jedem Haushalt gab.