Hundert Jahre später

Rosi Nieder, Herforst

Bevor sie heirateten, schrieb mein Großvater meiner Großmutter wunderschöne Karten mit versteckten Liebesgrüßen.

Sie wohnten in Dörfern der südlichen Vulkan-eifel, vielleicht gerade einmal zwölf Kilometer voneinander entfernt. Aber eben mal ins Auto steigen und hinfahren, war nicht. Anrufen auch nicht und schon gar nicht zehnmal am Tag eine SMS schicken, Mails schreiben, chatten oder sich per Facebook unterhalten. Hätte ihnen jemand so etwas erzählt, dann hätte das für damalige Verhältnisse vermutlich noch viel utopischer geklungen, als wenn man uns heute in Aussicht stellen würde, dass wir irgendwann von Planet zu Planet fliegen und auf dem Mars Urlaub machen. Sie schrieben sich also. Und wenn meine Oma nicht alle die wunderschönen Karten aufgehoben hätte, dann wüsste ich heute nicht, wie es war. So aber ist mir neben einem Packen alter Geldscheine mit phantastischen Wertezahlen auch eine Korrespondenz erhalten geblieben, woraus glückliches Erwarten und Liebe, aber leider auch unsägliches Leid hervorgeht. Denn das Glück meiner Großeltern währte nicht lange. Kurz nachdem ihr erstes Kind - mein Vater - geboren wurde, musste mein Großvater in den Krieg ziehen.

Heute kann ich im Internet recherchieren, wie sich die Front durch Frankreich zog und welchen Verlauf dieser sinnlose 1. Weltkrieg hatte. Damals hatten die Leute in den Eifeldörfern kaum Möglichkeiten, sich über das Geschehen zu informieren. Kein Fernsehen, kein Internet, kein Radio. Nein, nicht einmal Strom gab es damals in den Dörfern. Nur die Post gab es. Wie lange sie auch immer gebraucht hat, um Karten, Briefe oder Pakete zwischen Frankreich und Deutschland zu befördern. Vermutlich ziemlich lange, wenn man sich überlegt, mit welchen Verkehrsmitteln sie transportiert wurde. Aber wenigstens gab es noch Poststellen in den Dörfern. Und schreiben konnten die Menschen damals sicher besser als heute. Zumindest per Hand.

Die einzigen Nachrichten und Informationen kamen also von den Soldaten in Form von Briefen. Vom Ausbruch des Krieges im August bis Weihnachten 1914 schrieb Johann Heck seiner jungen Frau einen ganzen Karton voller Briefe aus der Champagne. Feldpostkarten und dicht beschriebene Briefe wie diese:

Nicht immer kann ich den Inhalt komplett entziffern in der Deutschen Schrift von damals. Anfangs schrieb er Belangloses, vermutlich wollte er seine junge Ehefrau und Mutter eines Babys nicht beängstigen. Später wurden die Briefe konkreter. Er schrieb, wie sie in den Schützengräben lagen, dass die Männer krank wurden, der Arzt sie aber erst krankschrieb, wenn sie schon fast tot waren. Wie eng sie sich im Winter nebeneinander zum Schlafen legten, um sich bei eisiger Kälte gegenseitig zu wärmen. Wie froh er war, von zu Hause ein Paket mit Essen zu erhalten. Er zählte die Briefe, die er von zu Hause erhielt, weil er sicher war, dass längst nicht alle ankamen. Er selbst schrieb fast jeden Tag, irgendwann (wie oben sichtbar) auf kleinen Zettelchen, die er mit Fetzen von Heftpflaster zusammenklebte und als Brief verschickte. Er wünschte seiner Frau und seinem Kind Ende 1914 noch ein schönes Weihnachtsfest. Ob sie ein solches hatten, weiß ich nicht. Leider habe ich als Kind und Jugendliche, als unsere Oma noch in unserem Haus lebte, nie mit ihr darüber gesprochen. Ich hatte meinen Großvater nie kennen gelernt, ich wusste nur, dass er im Krieg gefallen war. Und genauso wie Eifeler in ihrer Mundart kein Wort für Liebe haben, so sprachen sie auch nicht über Gefühle. Vielleicht war Oma auch deshalb eine verbitterte alte Frau geworden, weil sie so ein hartes Schicksal erlitten hatte und nie wieder eine Liebe fand und auch nicht suchte. Erst als Oma gestorben war, fand ich die Briefe, schön ordentlich mit Bändchen zusammengebunden und in einem Karton in ihrem Schrank versteckt. Es hat mich sehr berührt, diese Korrespondenz zu finden.

Einige Tränen tropften, als ich den Brief eines Soldaten vom 25.12.1914 fand, in dem er meiner Großmutter mitteilt, dass ihr Mann gefallen sei. Gestorben für das Vaterland (!!!) In hundert Jahren, wenn unsere Enkel oder Urenkel vielleicht irgendwann einmal einen Gedanken an ihre Vorfahren verschwenden werden, dann werden sie kaum noch eine Korrespondenz finden, aus der so vieles hervorgeht. Telefongespräche per Festnetz oder über Handy mögen ja von irgendwelchen Geheimdiensten gespeichert werden, aber für die Nachkommen sind sie Schall und Rauch. SMSe sind gelöscht, Handys entsorgt, E-Mails verschwunden, Computer verschrottet. Auch wenn es manchmal traurig ist, aber wie schön ist es doch, noch handgeschriebene Briefe in der Hand zu halten.