Der alte, weise Mann

Du schaust hin,
glaubst an ein grimmig, eisig Gesicht,
glaubst an jemand, der mag dich und die Menschheit nicht,
an jemand, der sich und seine Umwelt will vergessen,
nachdem er Vergangenes mit Kommendem gemessen.
Der zweite Blick -,
- du schaust schon genauer und inniger hin -,
und dann kommt es dir plötzlich beschämt in den Sinn:
Mein Gott ~, welche Gedanken waren eben bei mir,
welch ein edles Antlitz hast du vor dir!
Die Züge sind nicht eisig,
nicht von hochmütiger Grimmigkeit,
sie sind geprägt von Erfahrung, Edelmut und mahnendem Leid.
Sie sprechen ihre eigene Sprache,
sind angespannt und manchmal von beängstigender Tiefe,
als ob darin verborgene Weisheit schliefe,
Weisheit, von vielen Jahrzehnten geblieben,
Weisheit, die das Leben geschrieben.
Der Mann vor dir, er scheint zu grübeln, Erinnerung wird wach,
und obwohl er nicht spricht, denkst auch du nach.
Du kennst nicht seine Lebensgeschichte,
schätzt nur seine Jahr,
und siehst du sein schütteres, silbernes Haar,
darunter,
unter buschigen Brauen und tiefen Höhlen die traurig freundlichen
Augen verborgen,
dann spiegelt sich in ihnen die erlebte Erfahrung, die Sorge um morgen.
Nun spricht er endlich zu dir,
mit rauchiger, beruhigender, freundlicher, dein Inneres
erwärmender Stimme,
und schaust du dabei auf seine kräftigen, abgearbeiteten Hände,
erlebt dein Gemüt eine ungewollte, lodernde Wende.
Was ein Augenblick nur, ein paar Worte von diesem weisen, alten Mann
in deiner vorurteilenden Gesinnung ändern kann.
Du schaust nochmals hin - du möchtest erfahren,
was dieser Mann erlebt in seinen Jahren.
Das Gefühl von Eis und Kälte ist längst verschwunden,
du hast beim Gespräch irgendwie Ruhe gefunden.
Zuhören möchtest du ihm, aus seinem Munde die Geschichte hören,
die geschrieben steht in seinem faltigen, besorgten Gesicht,
doch dafür hast du die Zeit leider nicht...

Bernd Schlimpen, Schalkenmehren