Ein Eifelkind lernt Hochdeutsch

Helene Dümmer, Hillesheim

1950 gab es im heutigen Landkreis Vulkan-eifel lediglich eine „Höhere Schule", das gut geführte Pro-Gymnasium in Gerolstein. Dieser Schultypus entließ seine Schüler nach sechs Jahren mit dem Zeugnis der „Mittleren Reife" ins Leben. Eltern, die ihren Kindern ein späteres Studium ermöglichen wollten, hatten nun die Entscheidung zu treffen, an welcher Einrichtung ihre Kinder die beste Vorbereitung für ein gutes Abitur erhalten würden. Die Söhne konnten ohne großen Aufwand mit dem Zug zum renommierten Regino-Gymnasium nach Prüm fahren. Den Mädchen wollte man die Bahnfahrt aber damals nicht zumuten. Für sie bot sich als beste Lösung der Wechsel in eine von Ordensfrauen geleitete Internatsschule an, schließlich hatte die bittere Erfahrung der Kriegs- und Nachkriegsjahre zu besonderer Vorsorge gemahnt. Aus diesem Grunde brachte mein Vater seine Älteste und zwei Freundinnen 1946 mit dem Pferdefuhrwerk zur Ursulinenschule nach Hersel/Bonn. Jedes Mädchen brachte damals auch einen Sack Kartoffeln mit. Zwei Jahre später wurde meine zweite Schwester nach bestandener Aufnah-

meprüfung dort eingeschult, und ich stieß 1950 dazu.

Obwohl meine beiden älteren Schwestern begeistert vom Leben im Internat berichteten, fiel mir das Eingliedern schwer. Die Orientierung in den vielen langen Gängen auf mehreren Etagen verlangte von mir stete Achtsamkeit. Außerdem wurden wir angewiesen, Ordensschwestern, die im Park im Gebetbuch lasen, nie anzusprechen, wohl aber sie mit einem Knicks zu grüßen.

Im Speisesaal trafen sich etwa 100 Schülerinnen zwischen zehn und zwanzig Jahren zu vier sorgfältig zubereiteten Mahlzeiten. Jede Klasse hatte reservierte Tische; die hauswirtschaftlichen Lehrmädchen servierten und räumten ab. Nach jeder Mahlzeit hatten Schülerinnen Spüldienst in der Spülküche am Speisesaal abzuleisten. Weil alle Klassen nach einem feststehenden Plan einige Mitschüler zur Verfügung stellten, war man selten, aber auch gerne mit von der Partie. Beim Abtrocknen des Geschirrs wurde gesungen und da ich in meiner dörflichen Volksschule viele deutsche Lieder gelernt hatte, äußerten sich sogar

meine Mitschülerinnen lobend. Ich genoss ihre Anerkennung doppelt, denn man belächelte und hänselte mich ständig wegen meines Moselfränkischen Dialekts. Tatsächlich war mein Hochdeutsch noch nicht perfekt. Meine Klassenlehrerin erfasste das Problem und lud mich ein, mit ihr die Schulbibliothek zu besuchen. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. So viele Bücher in so vielen Regalen hatte ich noch nie gesehen! In unserem Ort existierte zwar eine Katholische Bücherei für Erwachsene. Ein Angebot für Kinder war aber nicht vorhanden. Die Kinder des Dorfes mussten vielfach nach Erledigung der Schulaufgaben im Haushalt oder in der Landwirtschaft mithelfen. Es blieb dann, auch mangels Angebot, keine Zeit zum Lesen. Schließlich wollte man ja auch noch auf der Straße mit anderen Kindern spielen und das setzte die Kenntnis der Umgangssprache voraus. Meine Lehrerin ordnete meine Überraschung positiv ein. Sie bot mir an, ein Buch auszuwählen. Ich griff spontan nach einem Buch über afrikanische Säugetiere und wurde nebenbei angewiesen, dass ein Buch in einer bestimmten Zeit und in gutem Zustand zurückgegeben werden muss. Außerdem riet mir die Klassenlehrerin, möglichst in einem kleinen leerstehenden Raum laut zu lesen. Ich nahm das Angebot gerne an und durfte schon nach

einigen Wochen im Handarbeitsunterricht meinen Klassenkameraden vorlesen. Diese Lehrerin war schon eine ausgezeichnete Pädagogin. So ließ sie mich in der Deutschstunde nur zu Wort kommen, wenn sie glaubte, dass die Antwort richtig sein würde, danach lobte sie mich vor der ganzen Klasse. Ich nahm zur Kenntnis, dass meine Mitschülerinnen mich mehr respektierten. Auch brachte die Benotung meiner Diktate wesentlich bessere Werte, die gleiche Verbesserung stellte sich bei den täglich anfallenden grammatikalischen SatzAnalysen ein. Anfangs erschienen sie mir wegen der vielen lateinischen Begriffe (Subjekt, Objekt, Prädikat etc.) als „Böhmische Dörfer". Aber nicht zuletzt, weil ich gefordert wurde, erreichte ich die Perfektion meiner Mitschülerinnen. Ich hatte mit großem Wohlwollen seitens meiner Klassenlehrerin begriffen, dass eine gepflegtere Sprache riesige Vorteile mit sich brachte. Als ich im Biologieunterricht einen kleinen Aufsatz über die Ziege geschrieben hatte, konnte man dort lesen: „Die Ziege hat eine schlanke Figur". Meine verehrte Klassenlehrerin, Mater Scholastika, lachte lauthals, und zeigte meine Version im Kollegium. Die Studienrätinnen lachten ebenfalls herzlich. Der Kommentar einer Dame lautete: „Immerhin denkt das Mädchen jetzt in der hochdeutschen Sprache".