Bis in die tiefe Nacht

Wilma Herzog, Gerolstein

Meine Mutter erzählte mir diese Geschichte von ihrem Vater, von ganz früher. Vielleicht bin ich gerade acht oder neun, wie es damals meine Mutter war, als dies passierte. Ich kenne diesen fleißigen wortkargen Mann nur als Opa, mit weißem Kaiser-Wilhelm-Bart, der den Radetzki-Marsch so akkurat mit den Fingern auf den weißgescheuerten Küchentisch trommeln kann. Er war bei der Kavallerie gewesen, ein paar Erinnerungen aus dem 1. Weltkrieg hängen an der Schlafzimmerwand, über seinem und Omas breitem Bett, direkt neben dem

großen eingerahmten Bild von Papst Pius X, vor dem ich mich immer so ängstige. Ich weiß genau, wie es bei ihnen daheim in der Küche aussieht und kann mir Oma vorstellen, wie sie damals über die knarrenden Holzdielen der Küche hin- und hergeht, auf die Pendeluhr schaut, die neben dem schwärzlichen hohen Küchenschrank mit den weißen Porzellanknöpfen an der Wand unruhig die Zeit vertickt.

Vor meinem geistigen Auge sehe ich sie ihre so genannten „Schaffärmel" (dreiviertel Är-

mel) höher schieben und sich wieder auf den hölzernen Küchenstuhl zwischen Schrank und Spülstein setzen und das Spinnrad mit einem Schub ihrer verarbeiteten Hand in Bewegung bringen. Während ihr rechter Fuß das Rad im Gleichtakt in Bewegung hält, läuft der feine ebenmäßige Wollfaden zwischen Daumen und Zeigefinger auf die Spule. Noch sitzen die fünf Kinder müde und missmutig um den Küchentisch über ihren Schulaufgaben. Die Griffel kratzen! Die Petroleumlampe rußt und wirft unruhige Schatten an die Wand. Es ist schon fast 9 Uhr. Bis zum Abendessen haben sie mit der Mutter gearbeitet. Das war Holz spalten, Kühe hüten, Schweine füttern und Kleinvieh. Je nach Jahreszeit fiel auch Arbeit auf den Feldern oder im großen Gemüsegarten an. Es gibt ja in der Landwirtschaft immer so viel davon für Frau und Kinder, während der Ernährer als Eisenbahner tätig ist. Mein Vater, erzählt mir Mutter, ging sechs Tage die Woche den weiten Weg durch den Wald bis zum Güterschuppen, wo er schwere Lasten bewegen musste. Manchmal gefährliche, wie das Verladen der Behälter mit Schwefelsäure. Im Güterschuppen gibt es Gelegenheit sich mit den anderen Eisenbahnern mittags den Henkelmann zu wärmen. Nach oftmals zehn Stunden schwerer körperlicher Arbeit geht er nach Hause. Im Winter ist es besonders gefährlich. Wir kennen den Bericht von diesem Arbeiter, der sich abends auf dem Heimweg in den hohen Schnee am Straßenrand gesetzt hatte und dort anderentags erfroren aufgefunden wurde. Es wurde erzählt, dass er vorher ein paar Bier in der Kneipe getrunken hätte und darum leichtsinnig geworden wäre. Sicher wollte er nur ein wenig ruhen und ist dann nie mehr aufgewacht.

Ich weiß, wo diese Kneipe liegt. Ich komme auf dem Schulweg direkt daran vorbei. Sie ist zu ebener Erde am unteren Ende der Oberen Marktstraße. Da musste mein Opa täglich zweimal vorbeigehen. Nicht immer packte er das auf dem Heimweg. Wie an diesem Feierabend. Er sieht von weitem die Fenster hell erleuchtet. Stimmengewirr und Lachen dringen zu ihm hinaus. Er fühlt in der Brusttasche nach dem Stück trockenen Brotes, das er immer

bei sich hat, für unterwegs, sollte ihn der Jähhunger packen und es ihm elend werden. Jetzt schluckt er und spürt auch den Hals und seinen Mund so trocken, und da drinnen in der Kneipe hat der Wirt sicher wieder ein Holzfass frischen kühlen Bieres angeschlagen. Er ist schon ein paar Schritte an der Tür vorbei, dann macht er kehrt und tritt ein, in diesen Dunstkreis der rauchenden Männer an der Theke, die bereits ihr kühles Pils vor sich stehen haben und ihm zuprostend und lachend Platz machen. Er stellt seine Tasche ab, legt die Mütze darauf, fährt sich mit den Händen durchs blonde kurz geschnittene Haar, öffnet seine Jacke und den obersten Hemdenknopf. Er bestellt ein Bier, stopft mit Bedacht die Pfeife und zündet sie an, zieht genüsslich den Rauch ein, während er dem angeregten Gespräch der Männer interessiert lauscht und dabei sieht, wie sein Bierglas sich allmählich füllt. Es gibt ein paar Geweihe an den Wänden und ein vom Rauch geschwärztes Ölbild, auf dem ein fröhlicher, alt und rund gewordener Mönch den Gästen mit einem vollen Humpen aus seinem Klosterkeller zuprostet. Es ist doch wie eine Einladung an ihn, hier kann er endlich die ganze Plackerei vergessen, den Ärger über die hochnäsige Bemerkung des Vorgesetzten, hier entspannt er sich, hier tickt keine Uhr. Er hat Zeit, endlich Zeit für sich. Trotzdem rechnet er sich insgeheim wohl aus, wie wenig Schlaf ihm bleibt, je nachdem, wann er heimkommt nach der guten Stunde Fußmarsch, bevor er morgen um 5 wieder losmarschieren muss Richtung Arbeit. Jetzt aber genießt er diesen ersten kühlen Schluck, prostet den anderen zu und lacht herzhaft über den lustigen Bericht eines Zechers. Meine Mutter schildert mir auch, wie es daheim ist:

„In der Küche schlägt soeben die Uhr neun Mal. Meine jüngste Schwester ist über ihrer Schiefertafel eingenickt, wie fast jeden Abend. Mutter seufzt: „Oje!" Sie fordert uns Kinder ungeduldig auf, endlich voran zu machen. Dann packen wir unsere Sachen zusammen und warten an der Küchentür, wo sie uns vor dem Schlafengehen segnet, denn dafür hängt das Weihwasserkesselchen neben der Küchentür. Dann nimmt sie die Petroleumlampe

vom Tisch, um uns die Treppe hinauf und ins Schlafzimmer zu leuchten. Sobald wir in den Betten liegen, geht sie mit der Lampe zurück in die Küche. Ich sah ja, wie oft an solchen Warteabenden der Blick meiner Mutter zur Uhr ging und dann wieder hin zur Schmerzhaften Mutter Gottes, deren gold gerahmtes Bild neben dem Kruzifix an der Wand über der hölzernen Küchenbank hing. Dann presste sie die Lippen zusammen, zog Luft durch die Nase ein und atmete die dann hörbar mit geöffnetem Mund aus und wir hörten immer wieder ihr: „ Oje!" Manchmal auch: „Oje, oje!" Aber wenn wir oben sicher in den Betten lagen und die anderen schon schliefen, hörte ich Mutter in

der Küche hin- und hergehen und laut sagen: „Ooo! Looß dän heemkunn! Looß dän nemmen es heemkunn!" Ich versuchte neugierig geworden, an manchen solcher Abenden mich wach zu halten, denn ich wollte endlich erleben, wie sie meinen Vater nach all dem schmerzvollen Stöhnen mit einem gewaltigen Donnerwetter empfangen würde. Stets war ich eingeschlafen, bevor mein Vater kam, aber zwei Mal gelang es mir, solange wach zu bleiben. Und beide Male war es genau dasselbe: Ich hörte Vater, wie er die Haustür aufschloss, und Mutter, wie sie durch den Flur zu ihm lief, um aufatmend zu sagen: „Bass de do, Johann! Bass de endlech do!"