„De Kirchhoff brennt"

Oswald Weber, Gerolstein

Es waren die ersten trüben Novembertage des Jahres 1956. Es waren auch die letzten Tage, an denen das Vieh noch auf die Weide gebracht werden konnte, bevor für sie der lange Winter im Stall begann. Unser Viehbestand waren genau zwei Kühe, die während der Weidezeit fast ausschließlich auf den Wiesen südlich des Dorfes Büscheich gehütet werden mussten. Das Hüten der Kühe gehörte außerhalb der Schulzeit fast ausschließlich zu den Aufgaben meines 13-jährigen Bruders und mir.

An diesem feuchten, neblig-kalten Tag wurden mein Bruder und ich von unserem Vater ausnahmsweise mit unseren Kühen auf die unmittelbar neben dem Friedhof gelegene Genossenschaftsweide geschickt, genau am anderen Ende des Dorfes in Richtung Gerolstein. Mein etwas mehr als ein Jahr älterer Bruder, im Umgang mit dem Vieh schon immer wesentlich geschickter als ich, trieb die beiden Kühe durch das Dorf zur Weide. Ich besorgte mir Glut aus dem Küchenfeuer und nahm diese in einer mit Luftlöchern versehenen Dose mit. Zumindest wollten wir uns bei dem schlechten Wetter an einem Feuer wärmen. Auf der Weide angekommen, wurde das Feuer mit Fichtenreisig in Gang gebracht, natürlich in der Nähe der etwas Schutz bietenden Fichtenhecke, die in Form eines Kelches unseren gesamten Friedhof eingrenzte. Man muss wissen, dass die Büscheicher auf diese gepflegte Hecke mit ihrer einmaligen Form sehr stolz waren.

In einem unbewachten Augenblick trieb ein heftiger Windstoß das Feuer in den unteren Bereich der Hecke. In dem trockenen Unterholz breiteten die Flammen sich sehr schnell aus. Unsere Versuche, das Feuer in der Hecke auszuschlagen oder auszutreten, schlugen fehl. Mein Bruder erkannte das, und schnell hatte er auch einen Plan fertig: Wir treiben die Kühe durch den Wald auf unsere Wiese in der „Hollbooch". Diese Weide lag auf der anderen Seite von Büscheich, etwa an der Abzweigung nach Michelbach. Gesagt, getan. Aber kaum waren wir im Wald verschwunden, hörten wir auch schon laute Rufe aus dem Dorf: De Kirchhoff brennt, de Kirchhoff brennt! Kurz danach ertönte auch das Feuerwehrhorn. Eine Sirene gab es damals noch nicht. Unterwegs wurde uns dann klar, dass wir mit Folgen zu rechnen hätten. Also vervollständigten wir unseren Plan. Wir nahmen uns fest vor, auf die mit Sicherheit bei unserer Heimkunft mit dem Vieh kommenden Fragen ganz einfach zu antworten, dass wir absolut schuldlos an dem Feuer seien, weil wir ja gar nicht auf der Weide beim Friedhof gewesen waren, sondern in der „Hollbooch". Der Plan schien uns sehr ausgereift und clever. Für den Fall, dass ich bei der zu erwartenden Befragung durch unseren Vater „umfallen" würde, drohte mir mein Bruder vorsorglich eine angemessene Tracht Prügel an.

Kaum waren wir zu Hause, mussten wir, wie befürchtet, bei unserem Vater zum Verhör antreten - und zwar einzeln. Zuerst mein älterer Bruder. Wie ich später erfuhr, hat mein Bruder angesichts der erdrückenden Beweislage - wir waren ja von vielen Leuten gesehen worden - schnell eingesehen, dass weiteres Lügen keinen Zweck hätte und die „Brandstiftung" zugegeben.

Mein Verhör lief etwas anders. Dass mein Bruder den Hergang wahrheitsgemäß geschildert hatte, wusste ich ja nicht. In Anbetracht der mir von meinem Bruder in Aussicht gestellten Tracht Prügel habe ich konsequent gelogen. Mir schien auch das Risiko, von meinem Vater Prügel zu beziehen, relativ gering, hatte er doch selbst des Öfteren nicht ohne Stolz von seinen früheren Streichen erzählt. Am Ende des Verhörs hatte ich zwar ein schlechtes Gewissen, war aber doch sehr erleichtert, da ich mir die brüderliche Tracht Prügel erspart hatte. Aber ich hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Das Urteil lautete nämlich: Freispruch wegen der teilweise abgebrannten Hecke. Das war halt passiert und es war ja auch keine Absicht. Aber weil ich stur gelogen hatte, erhielt ich zur Strafe doch noch die Prügel. Die Strafe wurde auch sofort vollzogen. Es waren, wenn ich mich recht erinnere, die einzigen Prügel, die ich - strafverschärfend mit Stock - von meinem Vater jemals bekommen habe. Im nächsten Frühjahr mussten wir den abgebrannten Teil der Hecke neu pflanzen. Ich kann mich noch daran erinnern, dass unsere Tante Vroni uns dabei geholfen hat. Es hat lange gedauert, bis die Hecke an dieser Stelle wieder zugewachsen war. Heute hat unser Friedhof eine gepflegte Buchenhecke, aber keine Kelchform mehr.