Heimat in der Not - Das Megafon

Wilhelm N. Zeyer, Gerolstein

Im Spätherbst des Kriegsjahres 1944 hatte ich ein unvergessliches, seltsames Erlebnis in Gerolstein. Die Front der Amerikaner rückte bei ihrem Vormarsch immer näher an die deutsche Reichsgrenze heran. Im Westen in Richtung Prüm sah man abends schon das Aufblitzen von schwerem Geschützfeuer und hörte das Donnern. Zwei Freunde und ich streiften im Waldgebiet des Distriktes Heiligenstein umher. Hier gab es damals ein schönes kleines Waldcafe als Saisonbetrieb. Die Besitzer hatten sich wegen der vielen Fliegerangriffe dorthin zurückgezogen, aber dann schließlich das kleine Holzhaus verlassen. Das Holzhaus und das kleine massive Steinhaus waren abgeschlossen. Ich entdeckte im welken Gras einen etwa halben Meter langen Trichter aus Zinkblech. Es war, wie sich herausstellte, ein Lautsprecher, ein Megafon ohne Verstärker. Ich betrachtete es als herrenloses Fundstück ohne Wert, nahm es an mich, machte eine Sprechprobe und war überrascht von der Lautstärke meiner Worte. Meine Freunde und ich machten uns dann auf den Weg zur Löwenburgruine. Unterhalb der Burgruine in östlicher Richtung waren etwa 50 Zwangsarbeiter - „Fremdarbeiter" wurden sie beschönigend genannt - damit beschäftigt, einen etwa drei Meter breiten, zwei Meter tiefen und etwa 20 Meter langen Graben, einen so genannten Panzergraben, mit Spitzhacke und Schaufel auszuheben. Sie wurden dabei von fünf Posten, die mit Karabinern bewaffnet waren, bewacht. Die Wachposten wurden wegen ihrer hellbraunen Uniform im Volksmund spöttisch „Goldfasane" genannt. In der Löwenburgruine angekommen, gingen wir zum halbrunden Rest des großen Turms und beobachteten die Zwangsarbeiter bei ihrer harten Arbeit. Ich stellte mich plötzlich auf die 80 Zentimeter hohe Steinbrüstung, hob das blecherne Megafon an den Mund und hielt eine laute und weit tönende Ansprache an die Arbeiter mit etwa folgenden Worten: „Fremdarbeiter, die Front der Amerikaner rückt näher. Schafft, Leute, damit der Panzergraben bald fertig ist! Er soll unsere schöne kleine Stadt vor angreifenden Panzern schützen." Die „Fremdarbeiter" schauten verblüfft zu mir hoch und ließen Hacke und Schaufel stehen. Sie wurden dann aber wieder von den „Goldfasanen" angetrieben. Das Ganze dauerte etwa zehn Minuten. In meinem Eifer hatte ich nicht beachtet, dass anstelle der fünf „Goldfasanen" nur noch vier Wache hielten. Der Fünfte stand plötzlich hinter uns. Er entriss mir brutal das Megafon und herrschte mich an: „Wie heißt Du?" Ich nannte meinen Namen. Dann fuhr er fort: „Du bist doch sicher in der Hitlerjugend?" Aus Angst versagte meine Stimme und ich konnte seine Frage nur mit einem Kopfnicken bejahen. Dann folgte eine Strafpredigt: „Die Front rückt näher und die Amis könnten bald Euer erbärmliches Dörfchen überrollen. Du hältst die Arbeiter mit Deinem dummen Geschwätz auf!" Dann jagte er uns drei davon. Das Megafon gab er mir nicht mehr zurück. Es war gemäß dem Sprichwort „wie gewonnen, so zerronnen" für mich zu meinem großen Bedauern verloren. Zu meiner großen Erleichterung gab es für mich keine bösen Nachwirkungen. Da ich schon dreimal den pflichtgemäßen HJ-Dienst unentschuldigt versäumt hatte und auch schon wegen unentschuldigten Fehlens mit Geldbußen in Höhe von drei, fünf und zehn Reichsmark bestraft worden war, hatte ich Angst vor einer noch härteren Bestrafung. Die letzte Geldbuße war mit der Androhung einer geistigen Umerziehung auf der Burg Stahleck am Rhein verbunden gewesen. Aber ich hatte Glück und war glimpflich davongekommen. Die „geistige Umerziehung" blieb mir erspart. Durch Vermittlung eines Sohnes des Bürgermeisters wurde ich in die Feuerwehr-HJ aufgenommen. Hier habe ich dann regelmäßig an Schulungen und praktischen Übungen teilgenommen. Für vormilitärische Ausbildung, was Zweck des „pflichtmäßigen" HJ-Dienstes war, hatte ich kein Verständnis aufgebracht.