Eine Respektlosigkeit

Ute Bales, Freiburg

Reglos stand eine Wolke über dem See, immer auf gleicher Höhe. Sie veränderte kaum die Form, nur abends flammte sie in den Sonnenuntergang und schien zu erlöschen, war aber am Morgen wieder da. Mückenschwärme hingen schräg in der windlosen Stille, weit oben kreiste ein Bussard. Die Sonne stand wie ein gelbes Rad und blendete. Die Schuhe der beiden Männer, die den Weg entlang kamen, waren voller Staub. Sie waren von Nickenich herübergewandert, über Waldwege aufgestiegen und schon eine Weile unterwegs. Unter den langen, schwarzen Soutanen schwitzten sie, was ihren erhitzten Gesichtern anzusehen war. Der Weg war voller Furchen, zog sich bis zu einer ziemlichen Höhe und erreichte einen mit Hecken bewachsenen Buckel, wo sie eine Weile, die Hand über den Augen, standen. Ginster leuchtete golden von den Ödflächen. Unter ihnen warf der See ein Blitzen herauf, blausilbrig und aus der Mitte grünschwarz und tief. Wie ein großes Auge schien das Gewässer, Bild und Abbild zugleich, das sich in Licht und Luft ständig veränderte. Schwalben schossen dicht darüber hinweg, warfen sich hoch und drehten sich, unvermittelt niederfallend; ihre hellen Brüste leuchteten. Hinter dem Buckel umfing sie ein Wald und die Wanderer waren froh über die Kühle. Tannennadeln machten den Boden weich, es roch harzig. Die ganze Zeit war der See zu spüren, obwohl man ihn nicht von überall sah, vom Wald aus schon gar nicht. Die Männer ähnelten sich nicht nur wegen der Soutanen, sondern auch in dem, was sie dachten. Sie waren beide um die sechzig, der eine etwas jünger. Der jüngere, Johannes Schulz, war Pfarrer von St. Arnulf in Nickenich. Der ältere, Josef Zilliken, Pfarrer von St. Remigius in Wassenach. Sie trafen sich manchmal montags, gingen ein Stück zusammen, beteten in der nahen Abtei und beredeten Dinge, die von Freundschaft zeugten. Oft saßen sie auf einer Bank am See, sahen auf die feinen Wellen, die sich bildeten, wenn Wind aufkam und Zitterstreifen über das Wasser laufen ließ, vertieften sich in Glaubensfragen, sprachen über Politik. Den ganzen Weg hatten sie über den Westfeldzug gemutmaßt, der unerwartet rasch vorankam und das ganze Land in Euphorie stürzte. Sie überlegten, ob die Maginot-Linie wohl halten würde, spekulierten über die neuen Kriegstaktiken, die Kombination von Panzern und Flugzeugen, über das Loch, das das deutsche Heer in die französische Front gerissen hatte, schüttelten den Kopf über die Geschwindigkeit, mit der der Führer die Schmach von Versailles tilgen und den glorreichsten Sieg aller Zeiten herbeiführen wollte. „Sie haben anscheinend die Kanalküste erreicht", sagte Schulz, „und schon Tausende von Gefangenen. Was glauben Sie, was jetzt in Frankreich passiert?" Zilliken hatte von geplanten Luftangriffen gelesen und verzog das Gesicht. „Einen sauberen Krieg nennen sie das, dabei ist der Krieg unselig. Aus unseren Soldaten machen sie Hunde. Und dann die Rassenpolitik und die Hatz auf die Juden. Das wird dazu führen, dass alles noch menschenverachtender wird. Verdächtigungen und Verleumdungen sind an der Tagesordnung. Der Krieg wird glorifiziert. Luxemburg, Belgien und Holland: es war ganz leicht. Und jetzt Frankreich. Sie finden für alles einen Vorwand, für alles." Ein Staub wirbelndes Fuhrwerk rollte dicht an ihnen vorbei; die Zugochsen schlugen mit den Schwänzen. Zilliken sprach über die Rassenansichten des Führers, die er primitiv nannte und verabscheuenswert. Der Bauer, der das Gespann lenkte, drehte den Kopf, weil er glaubte, etwas verstanden zu haben. Der Weg trat jetzt aus dem Wald heraus, machte eine Schleife und senkte sich in eine Mulde, wo breit und wiederkäuend Kühe auf einer Wiese lagen und die schweren Köpfe drehten. Hochstämmige Buchen beherrschten das Bild, immer wieder unterbrochen von Fichten, Lärchen, bisweilen auch von Birken und krummen Weiden. In Serpentinen ging es abwärts hinunter zum See. Die Uferzonen waren schilfbewachsen und von Seerosen durchzogen. Löwenzahn wuchs in gelben Büscheln, Brombeersträucher und Kornblumen, Mohn und Margeriten zierten den Wegrand, wilder Rittersporn und Eisenhut blühten, dazwischen Disteln. Lange standen sie am Ufer, beobachteten die unregelmäßigen Wellen, die nach allen Richtungen krochen und an Schlammrändern verebbten. Aus dem niederen Ufergestrüpp hingen schwarzes Dornzeug und brennende Nesseln ins Wasser. Flackernde Sonnenkleckse tanzten darüber. Grünleuchtend schwammen flache große Blätter auf dem See, Wasserläufer schossen zwischen ihnen hin und her. Großflächig wuchs der Farn. Ein toter Fisch schaukelte aufgequollen und weiß zwischen Holzgerippen, ein Kahn dümpelte an einem morschen Holzsteg, der zu einer Hütte führte, die einem Fischer gehörte. Netze waren dort aufgestellt und Ruder lehnten an einem Zaun. Der Wasserstand des Sees war niedrig. Glitschiges Gestein ragte aus der Flut und führte ins Schilf. Zilliken tat einen großen Schritt, stieg auf einen der Brocken, ging in die Hocke und sah ins Wasser. Es roch kühl und modrig, das Wasser war dunkelgrün, fast schwarz. Hinter dem Stein ging es tief hinab, der Grund war nicht zu sehen. Libellen schwebten; seltsam starr surrten sie vorbei. Luftblasen, geheimnisvoll und lautlos, schaukelten aus der Tiefe herauf und zerplatzten an der Oberfläche. Mit den Luftblasen schimmerte ein Fisch schräg nach oben, ließ sich wieder hinabsinken, stand regungslos, nur die Schwanzflossen fächelten. Zilliken bog sich tiefer hinunter, sein Spiegelbild leuchtete ihm entgegen, mischte sich mit dem Bild des Fisches, blieb verschwommen und zerrissen, schwankte ebenso trügerisch wie das Abbild der Hecken und Sträucher und sogar das des Himmels. Er hätte lange so bleiben können, hocken und schauen wie ein Kind, aber Schulz wartete und so kehrte er auf den Weg zurück, wo er ein Tuch aus der Tasche kramte und sich die Stirn wischte. Ein Spaziergänger kam ihnen entgegen, ein alter Bauer, der freundlich den Hut rückte. Der Weg verließ das Ufer, führte zum Kloster, wo sie die Basilika betraten und ein Gebet sprachen. Vom Kloster aus ging es wieder ein gutes Stück am Ufer entlang, dann bergan über die Landstraße zu einem Ausflugslokal. Sie beschlossen einzukehren, aber spät sollte es nicht werden, wegen der Maiandacht am Abend. Der Holunderduft, der vom Gasthaus Waldfrieden herüberzog, war betörend. Über Zäune und Mauern hingen die weißen Blütenteller. Auch Obstbäume protzten mit Farben. Zwei Mönche mit schwarzen Überhängen und sauber rasierten Tonsuren auf gebeugten Köpfen nickten herüber. Von der Terrasse her drang verworrenes Geräusch: Lachen und Kindergeschrei, Satzfetzen und Geklirr von Besteck. Ein Hund bellte und ein anderer gab Antwort, zweimal, dreimal. Ausflügler saßen vor ihren Krügen. Vor einer Laterne spielten Kinder. Sie hielten sich an den Händen, lachten und sangen, gingen im Kreis, linksherum, dann rechtsherum. Es roch nach Fisch und süßlich nach Pudding. Die Männer setzten sich an einen freien Tisch, winkten der Wirtin, die in einem enganliegenden Trachtenkleid und aufgekrempelten Blusenärmeln Teller mit Rauchfleisch und Sauerkraut an ihnen vorbei trug. Sie bestellten Kaffee. An den Tischen unter den laubigen Bäumen war es kühl und schattig. Wespen saugten an Vergossenem. Die Wirtin - sie hielt sich schief in der Hüfte und hinkte ein wenig - brachte Tassen, Löffel, Zuckerschale und ein dampfendes Kännchen. Die Sonne stand hoch, der Kaffee war noch zu heiß zum Trinken, als eine Wagenkolonne vor dem Haus Halt machte. Die Räder der Fahrzeuge knirschten über den Schotter und stoppten an der Mauer vor der Terrasse. Es waren teure Wagen, wie man sie selten sah. Alles reckte die Köpfe, ein Tuscheln und Raunen ging über die Tische, Unruhe entstand. Der Chauffeur des vorausfahrenden Wagens - es war ein Mercedes mit offenem Verdeck - stieg aus, umrundete das Fahrzeug, öffnete die Beifahrertür, stand stramm und hob die Hand an die Schläfe. Ein beleibter Mann schälte sich aus dem Wagen. In diesem Moment verebbten die Gespräche, die Kinder hörten auf zu singen, eine Frau, die gerade gegessen hatte und dabei war, mit Brot die braune Soße aufzutupfen, ließ das Brot sinken und kaute nicht mehr, die Wirtin glättete den Rock über den Hüften und fuhr sich durch die Haare. Keine zwanzig Schritte entfernt stand der zweite Mann im Staat, Reichsmarschall Hermann Göring. Er war dick und groß. Sein breiter Kopf und die Art, wie er sich bewegte, strahlten Grobheit und eine gewisse Egomanie aus. Er trug Stiefel und Jägertracht, um den Hals hing ein Fernglas. Eine rote Lederweste spannte sich über seinem aufgeblähten Leib. Auf dem Filzhut wippte ein Gamsbart. Hinter Göring gingen Offiziere in Jagduniform. Einer von ihnen, ein Mann mit rotem Gesicht und glänzendem Stiernacken, trug ihm Tasche und Mantel hinterher. Leutselig grinsend stieg Göring die Stufen zur Terrasse hinauf. Während die Wirtin vorauseilte, um einen Tisch zur richten, schrammten Stühle zurück, alles sprang von den Tischen auf, jubelnd und brausend, die Arme auf Augenhöhe schräg nach oben gestreckt, die Münder aufgerissen: „Heil Hitler!" „Sieg Heil!" „Heil, Heil!" Mit jedem Schritt, den Göring tat, mit jeder Geste, steigerte sich die Begeisterung: „Heil Hitler!" „Sieg Heil!" Göring schien in Hochstimmung. Nach allen Seiten grüßend - immer wieder hob er den gewichtigen Arm - kam er heran, tätschelte einem Kind die Wange, begrüßte einen Jungen mit Handschlag. Augenscheinlich genoss er den Wirbel, den sein Erscheinen verursachte. Die beiden Pfarrer blieben sitzen. Kurz nur sahen sie sich an, einvernehmlich der Blick, dann unterhielten sie sich weiter, ignorierten die Aufregung, die entstanden war, bliesen Dampf von den Tassen und tranken. Göring kam näher, ein wenig wiegend der Gang, dann bemerkte er die Pfarrer, ein kurzer, zunächst verwunderter, dann eisiger Blick flammte auf. Er verlangsamte den Schritt, ging auf die Männer zu, als wollte er ihnen Gelegenheit geben, das Versäumte nachzuholen. Empörung glänzte auf seinen Zähnen. Es waren nur Sekunden, in denen sie Auge in Auge standen. Zilliken saß ruhig, spürte das Vibrieren in der Luft, die Spannung, in die er sein Herz schlagen hörte. Schulz hielt die Augen starr auf die Tasse gerichtet, die er am Henkel hielt. Göring verhielt den Schritt, spürte, dass zumindest Zilliken jenseits der Angstgrenze war, setzte ein verzerrtes Grinsen auf, das ihm leer im Gesicht stand. Zilliken sah, wie Schulz' Finger zitterten und in dem Moment, in dem Göring vorbeiging, den Henkel so fest umklammerten, dass die Nägel weiß wurden. Er sah die verärgerten Blicke der Offiziere, hörte, wie einer etwas von Respektlosigkeit sagte. Und dann saßen sie am Tisch, Göring, wieder strahlender Laune, weil der Westfeldzug so gut voranging, neben ihm das Gefolge, stramm und ergeben. Eigentlich hatte Zilliken nicht hinsehen wollen, aber er bemerkte doch, wie Göring einen der Offiziere heranwinkte, wie der sich voller Verachtung nach ihm umdrehte, die Augenbrauen hob und dann mit Göring flüsterte. Er hätte nicht sagen können warum, aber in diesem Moment kam Zilliken der Vater in den Sinn, der kleine Uhrmacherladen in Mayen und die Türglocke, die schellte, wenn jemand eintrat und „Guten Tag" sagte. Er dachte an die Murmeln und die leeren Schneckenhäuser, die er als Kind gesammelt hatte und dann an die Drohungen und Anklagen, mit denen sie ihn, als er noch Pfarrer in Prüm gewesen war, versuchten zu zermürben. Von Anfang an hatte er den deutschen Gruß verweigert und es als seine Pflicht angesehen, in den Predigten die Dinge beim Namen zu nennen, schonungslos und geradeheraus. Nicht nur die staatliche Gehaltszulage hatte man ihm gestrichen, immer wieder war er zu Verhören geholt worden, diverse Strafbefehle waren gegen ihn eingegangen. Einmal drohte eine Gefängnisstrafe wegen Beleidigung eines NS-Ideologen in der Silvesterpredigt. Um die Pfarrei nicht zur Zielscheibe der Regierung zu machen, war er nach Wassenach versetzt worden, wo er fortfuhr, den Leuten über die Machenschaften der Partei die Augen zu öffnen, was die Bespitzelungen und Schikanen verschlimmert hatte. Jetzt war er auf alles gefasst. „Wenn die wüssten, wie es uns widerstrebt: Führer befiehl, wir folgen ... Dieses ständige Bekenntnis zu ihrer Politik und zu diesem Führerstaat", flüsterte er und Schulz räusperte sich. „Sagen Sie nichts. Wir sehen sie doch gar nicht. Wir trinken unseren Kaffee und dann gehen wir. Wir haben andere Aufgaben." Zilliken hatte gehört, dass auf Görings Befehl Juden enteignet und Zivilisten für die Rüstungsindustrie zwangsrekrutiert wurden. Der Titel Reichsmarschall kam ihm albern und mittelalterlich vor; auch, dass Göring die deutsche Luftwaffe für unschlagbar hielt. Im Augenwinkel sah er, wie Göring den Krug ansetzte und trank. Zilliken nippte an dem immer noch heißen Kaffee und dachte an begeisterte Soldaten, an die Sturzkampfbomber, Stukas genannt, die neuerdings mit Sirenen ausgestattet waren, an die pompösen Jagdveranstaltungen, zu denen der Reichsmarschall regelmäßig einlud, an die Schauauftritte und die Prunksucht, an rauchende Waffenschmieden und daran, dass es diesmal für ihn anders und schlimmer kommen würde. Eine weißblusige junge Frau, augenscheinlich die Tochter der Wirtin, brachte eine Platte mit Schleien und Forellen zu einem Tisch, wo ein Pärchen saß, das unablässig in Görings Richtung blickte. Sie zögerte, als sie am Tisch der Pfarrer vorbeikam. Die Frau war klein und unscheinbar, hatte helle Augen mit Brauen, die sich wegen der hellen Farbe nur wenig vom Gesicht abhoben und es deshalb flach machten. Mit diesen hellen Augen sah sie auf Zilliken, dann auf Schulz. Hilflos und erschrocken stand sie da, ihre Lippen zuckten. Dann murmelte sie etwas und eilte in Richtung Küche. Später brachte sie volle Bierkrüge an Görings Tisch. Tabakqualm zog herüber. Und Lachen. Die Männer tranken den Kaffee, zahlten und gingen. Ein kurzes Stück noch blieben sie zusammen. Am Ortseingang von Wassenach trennten sie sich. „Was meinen Sie, was sie jetzt tun?", fragte Schulz. „Hitler ist nicht Deutschland und auch nicht die Zukunft", sagte Zilliken und nickte ihm aufmunternd zu. Er stand noch und sah Schulz hinterher, der auf der Straße nach Nickenich kleiner und kleiner wurde. Ein leichter Wind hatte sich erhoben. Der Himmel war jetzt grünlich und bis auf die eine Wolke leer. Das Gelb der Sonne leuchtete nicht mehr. Es schien ihm, als ob die Straße von ihm wegliefe, ihn auf seltsame Weise zurückließe. Kurz kam ihm der Gedanke, dass es besser sei, einen anderen Weg zu nehmen und die Nacht woanders zu verbringen. Im Pfarrhaus angekommen aß er ein Brot und richtete sich für die Andacht. Er versuchte, den Vorfall des Nachmittags wegzuwischen und war dabei, die Fürbitten nochmals durchzulesen, als er Motorengeräusche hörte. Vom Schlafzimmer aus sah er, wie ein dunkler Wagen auf den Hof fuhr. Drei Männer in ziviler Kleidung stiegen aus, blieben ein paar Minuten auf dem Kies stehen, wo sie etwas beredeten und dann auf die Tür zugingen. Ohne anzuklopfen traten sie ein. Schwere Schritte polterten. „Zilliken, komm raus! Na los, mach schon!" Im Flur, wo er ihnen entgegen kam, packten sie ihn, rissen seinen Arm in die Höhe. „Heil Hitler! Sag es! Los, machs Maul auf! Grüßen sollst du, grüßen!" Einer stieß ihn in die Seite. „Wirst du wohl grüßen?" Dann pressten sie ihn gegen die Wand, Hände tasteten ihn ab, er hörte, wie in der Stube Schränke aufgerissen wurden und Schubladen auf den Boden platzten, sah, wie einer Briefe, Papiere und die Mappe mit den Predigten in eine Tasche stopfte. Er hielt aus und schwieg. Die Gesichter der Männer waren hart und entschlossen.

Josef Zilliken und Johannes Schulz wurden noch am Abend des 27. Mai 1940 verhaftet und ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Ende 1940 kamen sie ins Konzentrationslager Dachau. Johannes Schulz starb im August 1942, Josef Zilliken im Oktober 1942 in Dachau.