Heimkehr

Brigitta Westhäusler, Hillesheim

Sie verlangsamte das Tempo, setzte den Blinker und nahm die Ausfahrt, die sie nach 22 Kilometern in ihr Heimatdorf bringen sollte. Der Regen hatte aufgehört. Sie konnte den Scheibenwischer ausstellen, aber noch Hunderte von Tröpfchen umrahmten den Halbkreis, den die Wischer auf der Scheibe hinterlassen hatten. Schwarz glänzte der Asphalt, und die dunklen Nadelbäume zu beiden Seiten der Fahrbahn schienen sie abwehren zu wollen, so undurchdringlich kamen sie ihr vor. „Was will ich hier bloß?", ging es ihr durch den Kopf. „Eine Schnapsidee, hier wieder aufzutauchen, nach all den Jahren!" Aber die Einladung ihrer Schwester zu deren 50. Geburtstag hatte sie angerührt. Der erste Kontakt nach langer Zeit. „Komm' nach Hause", hatte sie geschrieben. In 500 Metern - wie ein Straßenschild ankündigte - konnte man rechts auf einen Rastplatz abbiegen. Man hatte die alte Straßenführung dafür genommen und einen rustikalen Tisch und zwei Bänke aufgestellt. Kurz entschlossen machte sie dort Halt. Mit einem Knopfdruck surrte ihr Seitenfenster herunter. Kühle Luft drang herein und mit ihr der Geruch nach feuchter Erde und Fichtennadeln. Sie lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Einen Augenblick lang überließ sie sich den Sinneseindrücken. Ihre Gedanken führten sie zurück. Sie sah sich wieder als kleines Mädchen mit wehenden Zöpfen durch einen Wald laufen, ihren ,Feenwald', um ein gutes Versteck zu suchen. Wie oft hatten ihre Geschwister und die Freunde aus dem Dorf dort gespielt. Dann schreckte sie hoch. Sie zitterte, ihr war kalt, und eine Gänsehaut bildete sich auf ihren Unterarmen. Schnell schloss sie das Fenster. Ihre rechte Hand wollte schon den Zündschlüssel drehen, als sie sich wieder in ihren Sitz zurück gleiten ließ. „Soll ich wirklich weiterfahren?", fragte sie sich. Ihre Kehle war plötzlich ganz trocken. Sie griff nach der Wasserflasche, die auf dem Beifahrersitz lag, und nahm einen kräftigen Schluck. Vor fast 20 Jahren hatte sie fluchtartig ihr Heimatdorf verlassen, nach einem schrecklichen Streit mit ihren Eltern. Nein, sie wollte sich nicht bevormunden lassen! Sie wollte nicht mehr in dem kleinen Dorfladen arbeiten und versauern! Schön brav zu Hause wohnen und sich kontrollieren lassen. Nein! Mittwochs zu den Proben für das Blasorchester, sonntags in die Kirche. Das sollten die Höhepunkte in ihrem Leben sein. Irgendwann so einen Bauerntölpel heiraten und dann so leben wie ihre Eltern und Großeltern, so als ob die Zeit und die Welt sich nicht weiterentwickelt hätten! Sie hatte Träume. Sie wollte etwas von der Welt sehen und Abenteuer erleben. Wieder nahm sie einen Schluck aus der Flasche. Sie schloss die Augen. Ein junger Mann mit schwarzem, welligem Haar und einem spitzbübischen Lächeln tauchte vor ihrem geistigen Auge auf - Jean-Pierre. Sie traf ihn damals auf dem großen Musikfest in der nahen Kreisstadt. Er spielte wie sie Klarinette und hatte bei dem Wettbewerb ein tolles Solo hingelegt. Sie lächelte, als sie sich jetzt daran erinnerte. Und nach dem Konzert trafen sie sich an der Theke im Festzelt und kamen ins Gespräch. Sein Deutsch war nicht perfekt, aber sein Akzent sehr lustig. Sie hörte ihm zu und hing an seinen Lippen, als er sein Zuhause im Süden Frankreichs beschrieb und von den Auftritten mit seinem Orchester erzählte. Und als sie sich in den frühen Morgenstunden küssten, stand ihr Entschluss fest: Sie wollte mit ihm fahren, einfach mit in den Bus steigen und hinaus in die Welt! Plötzlich klopfte jemand an ihre Scheibe. Erschrocken öffnete sie die Augen und schaute misstrauisch in ein männliches Gesicht mit mächtigem Schnurrbart. Auf dem Kopf trug der Mann einen Hut, der ihn eindeutig als Förster enttarnte. Er gestikulierte mit seinen Händen, und sie ließ endlich die Scheibe herunter. „Guten Tag! Sie sprechen Deutsch?" Und als sie nickte, fragte er: „Entschuldigen Sie bitte, aber kann ich Ihnen helfen?" Er hatte eine sympathische Stimme. „Nein. Vielen Dank", antwortete sie. „Ich mache nur eine kurze Pause." „Sie sahen so blass aus und ihr Kopf lehnte so schräg am Fenster, da habe ich mir Sorgen gemacht." „Ja, nochmals vielen Dank, aber ich komme schon klar. Ich fahre gleich weiter." „Sie haben ein französisches Kennzeichen. Kommen Sie aus Frankreich? Wohnen Sie dort?" Eigentlich hatte sie keine Lust auf eine längere Unterhaltung, aber irgendetwas an seiner Haltung und an seiner Stimme erinnerte sie an etwas. Sie stieg jetzt aus und dehnte ein wenig ihre Glieder. Er stand da in seiner Uniform, sein Gewehr geschultert und musterte sie neugierig. ,Ein stolzer Mann', ging es ihr durch den Kopf. „Ja", antwortete sie. „Ich lebe in der Nähe von Montpellier. Das ist ziemlich im Süden von Frankreich. Ich bin die ganze Nacht durchgefahren." Ein prüfender Blick musterte sie. Seine Augenbrauen verengten sich, und er schien zu grübeln. Dann weiteten sich seine Augen und er stotterte: „Re-na-te? Bist Du die Renate Wermes, die damals ......Du hast schon früher immer die Haarsträhne so hinter Dein Ohr gestrichen. Ich kann's nicht fassen. Was machst Du hier?" Ungläubig schaute sie ihn an. „Wer sind Sie? Woher kennen Sie mich?" „Ich bin doch der Paul, Paul Freytag. Erkennst Du mich gar nicht mehr? Ich spiele übrigens immer noch Tenorhorn." Sie betrachtete sein Gesicht und versuchte darin den jungen Mann, den sie aus ihrer alten Kapelle kannte, wieder zu erkennen. „Paul", flüsterte sie, und sie erinnerte sich an schüchterne Annäherungsversuche, die sie damals nur mit Spott bedachte. „Du hast Dich sehr verändert, zu Deinem Vorteil, muss ich gestehen." „Du Dich auch! Und - hast Du Dein Glück gefunden? Bist Du verheiratet?" Ein wehmütiger Ausdruck trat in ihre Augen, und ihre Lippen schlossen sich für einen Moment fest zusammen. Ein bitterer Ausdruck trat in ihr Gesicht. Dann entspannte sie sich wieder etwas. „Es ist nicht so leicht zu beantworten und auch nicht hier und jetzt. Nein, ich bin nicht verheiratet. Und Du?" „Ich habe die Richtige noch nicht gefunden. Ich habe oft an Dich gedacht", setzte er leise hinzu. „Bist Du jetzt auf dem Weg nach Hause?" „Ja, Elisabeth hat mich zu ihrem 50. Geburtstag eingeladen. Es ist das erste Mal, dass ich wieder in mein Dorf komme. Um ehrlich zu sein, ich habe einen mächtigen Bammel." „Das wird nicht einfach für Dich. Aber ich glaube, sie werden sich freuen, Dich wieder zu sehen. Leider sind Deine Eltern schon tot. Es war hart für sie damals, als....." „Ja, ich weiß." Sie verstummte und starrte vor sich hin. Sie schlang die Arme um sich, dann stieg sie entschlossen wieder in ihren Wagen. „Ich muss jetzt los, bevor ich es mir noch anders überlege", sagte sie und wollte die Tür schließen. „Renate", sagte er weich und hielt die Tür noch offen. „Schön, dass Du wieder da bist. Willkommen zu Hause!" Sie nickte und startete den Motor. Langsam fuhr sie vom Rastplatz und sah ihn im Rückspiegel immer noch unbeweglich dort stehen. Noch sechs Kilometer bis zu ihrem Dorf. „Nach Hause! Ich komme heim, endlich!"